Safe Space Kepler 6

Ich muss immer mindestens zwei Dinge auf einmal machen, sonst werde ich unruhig. Kein Joggen ohne Hörbücher oder Podcast. Bei den Podcasts höre ich ziemlich wahllos das, was mir der Shuffle so vorschlägt. Ich jogge ja eh nicht oft – eigentlich wirklich nur am Wochenende und auch dann nur wenn nichts Gutes oder auch nur Akzeptables im Fernsehen läuft. An einem Sonntagnachmittag im September ist das der Fall und ich jogge und schalte bekomme einen Podcast vorgeschlagen, der „Safe Space Kepler 6“ heißt. ok, wird angemacht.

Willkommen. Dieser Podcast ist ein Safe Space für alle Belange von Kepler 6. Dank des Übersetzungs-Plugins können uns auch K6-Allies von anderswo zuhören. Gerade jetzt ist es wichtig, offen und sicher sprechen zu können. Vielen Dank für Eure Nachrichten. Sie erreichen uns von allen Seiten, besonders vom Himmel, besonders nachts.“

Ich laufe so meine Runde und höre zu, ganz nice, Leute rufen an und zwei Moderatorinnen reden mit ihnen. Verstehe nicht so ganz, worum es in den Gesprächen geht, aber das macht auch nichts. Zwischendurch spielen sie ein bisschen Musik, gut, aber auch etwas strange, die Töne sind irgendwie alle nicht dort, wo sie sein sollten und der Gesang ist in einer mir unbekannten Sprache.

Irgendwann fing ich mir das Grübeln vorm Schlafen ein, so wie man sich irgendwann Lippenherpes einfing und dann nie mehr loswurde. Ich komme nicht gegen das Grübeln an, es passiert ganz automatisch: Ich lege mich ins Bett und sofort geht das Grübeln los. Über den Job, über die Zukunft, über alles. Vielleicht hängt es mit dem erwachsen sein zusammen und ist einer der vielen, vielen Gründe, warum es sich nicht gelohnt hat, erwachsen zu werden. Aber an diesem Tag liege ich nicht wach, weil ich mir wegen etwas Sorgen mache, sondern weil ich dauernd an den Podcast denken muss. Irgendwas daran blieb bei mir hängen. Aber was?

Montagabend, nach der Arbeit weiterhören? Nein, ich kann nicht einfach dasitzend und zuhören und erst recht kann ich mich unter der Woche nicht aufraffen, Joggen zu gehen. Am Wochenende regnet es, aber dann bügle ich halt, laufe anschließend durch die Wohnung und höre dabei die nächsten Folgen.

„Willkommen bei Safe Space Kepler 6. Es sieht momentan nicht verheißungsvoll aus, zumindest nicht sehr. Aber wir haben einander. Ihr uns und wir Euch. Wir werden sozusagen unter Schnee begraben und wir schaufeln ihn weg, Flocke für Flocke.“

Der Podcast begleitet mich auf ganz angenehme Weise durch meinen Alltag. Ich verlängere meine Joggingstrecke ein bisschen, damit ich, wenn ich loslaufe, genau zum Ende wieder zu Hause bin. Umso ärgerlicher als ich eines Nachmittags gerade mal auf der Hälfte des Weges bin, als ich folgendes höre:

Das war es jetzt. Wir sehen noch die Neon-Reklame auf dem Gebäude gegenüber, aber die Buchstaben drehen und dehnen sich bis sie schließlich das Wort ENDE ergeben. Es ist nicht länger möglich weiterzumachen. Der Schlüssel liegt da, wo er immer liegt. Fühlt Euch umarmt.

Und das ist anscheinend die letzte Folge. Ich warte eine Woche und dann noch eine, aber es kommt keine neue.

Irgendwann komme ich darauf, „Kepler 6“ nachzugoogeln. Manche Forschungseinrichtungen stellen ihren Bibliothekskatalog öffentlich online. In so einem finde ich ein bisschen was und einen Namen, der immer wieder als Autor von Aufsätzen und Büchern zu diesem Thema auftaucht – ein Privatdozent, der anscheinend eine Weile Professor an einem norddeutschen Teilchenbeschleuniger war. Seine damalige Emailadresse ist auf der Website noch online, ich maile ihm, versuchen kann man’s ja.

„Sehr geehrter Herr, vielen Dank für Ihre Nachricht“, antwortet er mir ein paar Tage später, „ja, ich kann ein bisschen was zu Kepler 6 sagen, auch wenn mich das Thema eigentlich schon seit Längerem nicht mehr beschäftigt.“ Er nennt eine Adresse, in einem Ort namens Dannenberg.

Ich nehme eine Regionalbahn. Dannenberg hat ein ganz schönes, wenn auch de facto stillgelegtes Bahnhofsgebäude. Ich spaziere zu der mir genannten Adresse; die Stadt selbst ist völlig belanglos. Ich komme an und klingle. Keine Antwort. Hättest Du mal nach einer Handynummer gefragt, dann könntest Du jetzt anrufen. Hättehättehätte. Gehe um das Haus herum, im Garten ist eine Art Pavillon, vermutlich so aus den frühen Achtzigern. Warum sieht auf dem Lande alles so deprimierend aus? Gehe an die Tür und klopfe.

Ein Mann in einem schlecht sitzenden Anzug macht mir auf. „Ja, bitte?“ Ich sage, dass wir gemailt haben und er dankenswerterweise anbot, mir etwas von Kepler 6 zu erklären. „Ach, richtig, richtig. Kommen Sie doch herein.“ Der Privatdozent erzählt etwa vier Minuten lang konkret über Kepler 6 („Die Bedingungen dort ähneln denen auf der Erde sehr. Soweit ich das einschätzen kann, entsprechen alle dortigen physikalischen Konstanten und Gesetze den unseren und auch die Evolution verlief weitestgehend gleich“), bevor er dann in astronomischen („Der Nachthimmel sieht dort ganz anders aus; das ist am Anfang wirklich irritierend, also dass man nach oben blickt und nicht ein einziges Sternenbild wiedererkennt“) und philosophischen Details festspricht („Wir schauen auf mögliche Welten und sind überrascht, dass dort Goethe dort nie geboren oder Fahrräder sehr viel früher erfunden wurden. Dabei wäre es doch viel interessanter herauszufinden, was das minimale Set an Regeln wäre, das in allen möglichen Welten wahr sein muss, also ob zum Beispiel in jeder Welt gelten muss, dass nicht zwei Gegenstände an exakt demselben Ort sein können“). Ich versuche ihn immer wieder zu Kepler 6 zurückzulenken und frage auch nach dem Podcast, aber er hat anscheinend seine Lieblingsthemen und lässt sich von meinen Fragen nicht aus dem Konzept bringen. Dann sagt er aber noch eine ganz interessante Sache: „Sie könnte da auch hinreisen, wenn Sie möchten. Es gibt ein Portal, in Kassel. Die Eingeborenen von Kepler 6 können es nicht benutzen. Ich weiß nicht, warum. Aber für uns ist es ganz praktisch. Warten Sie, ich suche es Ihnen mal heraus.“

Ich wäre gerne die Art Mensch, der dann abends nachrecherchiert, wo genau das ist und dann gleich beim nächsten freien Wochenende da hinfährt und so – bin ich aber einfach nicht. Vergeude ein paar Wochenenden; unter der Woche arbeite ich ja eh und meine Urlaubstage habe ich für dieses Jahr schon  l ä n g s t  verbraucht. Schaue hin und wieder ob es eine neue Folge des Podcasts gibt – nein gibt es nicht. Raffe mich schließlich auf, an einem Samstag mal nach Kassel zu fahren. 

Die Adresse, die der Professor mir genannt hat, ist ein Raum in der Uni. Eigentlich logisch – warum habe ich mir das nicht denken können? Ich gehe zu einem Gebäude, vor dem eine Stele steht, die es als Physikum ausweist. Der Haupteingang ist auf der anderen Seite. Ich laufe an einer Raucherecke vorbei. Hier gibt es auch einen Tisch und Stühle, allerdings sind sie aus Beton gegossen. Ein Physiker steht dort und raucht. Ich frage ihn nach dem mir genannten Raum. Er nennt ihn mir. Ich frage außerdem, ob es hier einen Kaffeeautomaten gibt. Der Physiker bestätigt das – ein Euro pro Kaffee – steht im Erdgeschos. Und dann ergänzt er, dass er gerade ein bisschen neben der Spur ist, denn seine Freundin hat sich gerade nach zwölf Jahren von ihm getrennt. Er würde es gerne jemanden erzählen, der ihn kennt, aber seit Corona ist er der einzige hier. Alle sind im Homeoffice.

Mit einem meine Gesamtstimmung hebenden Kaffee trete ich in den Portalraum. An dem Portal sind viele Knöpfe und Schalter. Hmmmh. Ok, ein Knopf ist sichtlich abgenutzt und abgerubbelt. Ich drücke ihn, das Portal öffnet sich und ich trete hindurch.

Das Portal führt direkt ins freie, auf eine Art Einkaufsstraße. Das Licht ist hier irgendwie anders. Meine Augen brauchen eine Weile bis die sich daran gewöhnt haben. Minzgeruch. Es riecht hier penetrant nach Minze. Mein Sehsinn kommt mit dem komischen Licht ganz gut zurecht, doch meine Nase mit dem Geruch gar nicht. Ich spaziere ein bisschen umher. Anscheinend ist das tatsächlich einfach eine Einkaufsstraße. Ich bin ein bisschen enttäuscht, kann aber auch nicht sagen, was ich auf Kepler 6 stattdessen erwartet hätte. Es ist hier vollkommen leer, manche Eingänge sind offen. Zwischendurch hängen von außen an den Fassaden Plakate, auf denen ein Gegenstand mit vielen Kanten und drum-herum aufgeregt wirkende Schrift zu sehen sind. In den Geschäften gibt es Kleidung, Flüssigkeiten in fröhlich bunten Flaschen und Gegenstände bei denen mir nicht klar ist, zu was sie da sind. 

Ich gehe die Straße eine Weile in die eine Richtung weiter. Da kommt so ein Wasserspiel und noch mehr Geschäfte. Hier ist außer mir auch niemand. Alles wirkt so als sei es von allen auf einmal – und alles liegen lassend – verlassen worden. Hmmmh. Ich gehe noch in die andere Richtung und wenn da auch nichts ist, Portal-isiere ich zurück zur Erde. Kein Wunder, dass der Professor so offen über das Portal gesprochen hat und der Physiker mir den Raum genannt hat, denn Kepler 6 ist wirklich ein bisschen unterbeeindruckend.

Ich spaziere bis zu einer großen Grünfläche, dahinter fällt die Stadt abschüssig einbisschen ab und gibt einen ganz schönen Ausblick auf Wälder frei, ganz schön. Die Bäume, wenn ich das aus der Ferne korrekt erkenne, sind eigentlich keine Bäume, sondern riesige einstämmige Pfefferminzsträucher; das würde auch den Geruch erklären. Es sieht ganz cool aus, wie sie sich so im Wind hin-und-her bewegen. Auf der Grünfläche steht eine Bronzestatue von einem Kind, das in der einen Hand etwas hält, das vielleicht eine Taschenlampe sein könnte und in der anderen Hand einen Schlüsselbund. Zwei Männer schneiden die Statue mit Lasern auseinander. Sie machen das in so fünf Zentimeter-Scheiben und gehen dabei sehr vorsichtig vor. Neugierig gehe ich auf sie zu. Sie stehen mit dem Rücken zu mir und sehen mich zunächst nicht. Sie sind deutlich kleiner als ich, tragen Atemmasken und sind haarlos. Ich frage mich ob für sie Behaartheit aussieht wie eine Krankheit – wie etwas womit man sich anstecken kann. Einem von beiden fällt ein Werkzeug hinunter, er dreht sich um und schaut mich an. Ganz ruhig, in fließenden, vorausschaubaren Bewegungen, gibt er dem anderen ein Zeichen. Der andere dreht sich auch um. Sie haben beide keine Augenbrauen. Wir stehen ein paar Sekunden so da. Soll ich was sagen? Abermals in ganz ruhigen Bewegungen klicken sie einen Knopf an ihren Handgelenken an und sind auf einmal weg. So als seien sie von einem Bungee-Seil plötzlich nach oben gezogen worden. Ich gehe zu der Statue. Sie lässt sich ganz leicht auseinander reißen. Sieht aus wie Metal, aber sie fühlt sich für mich an wie Papier. Warum haben die beiden hierfür Laser benutzt und es nicht einfach mit der Hand gemacht? In dem Schlüssel von der Statue ist etwas drin. Es sieht ein bisschen aus wie ein Würfel, aber viel komplizierter und hat ein bisschen so eine Oberfläche wie Hartplastik. Ich stecke es mir in die Jackentasche und mache mich auf den Weg zurück zum Portal.

Mittlerweile ist Oktober und das dauernde Matschwetter macht mich fertig. Antriebslos auf der Couch herumliegend scrolle ich die Podcast-App durch und entdecke, dass es eine neue Folge von „Safe Space Kepler 6“ gibt, yayy.

„Jemand von Euch hat den Code verstanden, das Versteck gefunden und das Pentachoron an sich genommen. Danke! Wer auch immer von Euch es hat, das Pentachoron scheint in Sicherheit zu sein. Es ist völlig von allen Scannern verschwunden. Wir haben alle Translatoren zerstören müssen. Alle bis auf den, welchen wir jetzt gerade benutzen . Bitte bringt Eure eigenen mit, wenn Ihr kommt. Und kommt, bitte. Der Safe Space hat sich von innen nach außen gedreht – jetzt er braucht Euch und muss von Euch beschützt werden. Wir treffen uns auf dem Eisplaneten.“

Dann sagt noch die andere Moderatorin: „Das hättest Du nicht sagen sollen, mit dem Planeten“ und dann bricht die Folge ab. Kommt noch Musik? Ich warte ein bisschen. Nein, nichts. Ok, schade. 

Seitdem ich von Kepler 6 zurück bin, funktionieren alle Elektrogeräte in der Wohnung besser: Das Fernsehbild ist schärfer, der Computer geht an wenn ich nur an ihn denke – ich muss den Knopf gar nicht drücken – das Nintendo läuft auch ohne Batterien etc. Es liegt wohl nicht an mir, also nicht daran, dass mit mir etwas anders ist, denn wenn ich in zum Beispiel in Läden gehe, verhalten sich die Geräte dort ganz normal. Ah, nee, also auch dort ist es anders, wenn ich die Jacke trage, die ich auf Kepler 6 anhatte. Vielleicht hat sie sich dort mit irgendwelchem Paralleluniversum-Staub oder so vollgesogen, wer weiß.

Wenn ich im Schlafzimmer das Licht ausmache und mich ins Bett lege, geht es nach so zehn, 15 Minuten wieder an, allerdings in einem violetten, unregelmäßig pulsierenden Licht. Das ist ganz schön anzuschauen und man kann eigentlich gut dazu einschlafen. Eines Nachts pulisiert es allerdings in ganz kurzen Intervallen und wird dabei extrem hell. So kann ich nicht schlafen, grrr. Ich liege wach und beschließe, am nächsten Morgen nochmal nach Kassel zu fahren.

An der Raucherecke mit den Betonmöbel halte ich Ausschau nach dem Physiker, aber er ist hier nicht. Als ich auf der anderen Seite des Portals ankomme, werde ich sofort von einer Gruppe Uniformierter angehalten. Zwei halten mich fest und ein Einäugiger stellt sich von mir und hält mir seine leere Hand hin. Anstelle des anderen Auges hat er eine gut verheilte, aber leider sehr hässliche Narbe. Warum benutzt er kein Glasauge oder zumindest eine Augenklappe? Naja, jeder wie er will. Jemand brüllt mir vorwurfsvoll ins Gesicht und zeigt auf die leere Hand. Ich weiß nicht, was die von mir wollen – ich bin schließlich nur irgendsoein Typ – vielleicht verwechseln sie mich mit jemanden.

Der Einäugige hat so eine Art Handy dabei, spricht etwas da rein und hält es mir dann hin. Das Handy sagt:

Dieser Translator wurde aus Sicherheitsgründen deaktiviert. Bitte geben Sie die Sicherheits-PIN ein, um ihn auf die Basiseinstellungen zurück zu setzen und neu zu starten.“

Ich zucke mit den Schultern. Der Einäugige tippt etwas in das Handy ein, spricht nochmal was rein und hört, was es ihm sagt, jetzt wieder in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Er hört sich das an und haut das Handy dann anschließend so lange gegen eine Wand bis es nur noch Schrott ist. Das muss sich sehr befriedigend anfühlen. Ich würde das auch gerne mit meinem eigenen Handy machen. Jetzteinerauchen. Ich greife in meine Hosentasche, dabei rutscht der Ärmel meines Pullis ein bisschen hoch. Die beiden Uniformierten schauen auf meinen Arm (meine Uhr? meine Armhaare? Ellebogen?) und lassen mich entsetzt sofort los. Warum? Wovon ekeln sie sich? Ist auch egal: ich nutze den Moment der Verwirrung und trete durch das Portal zurück in meine eigene Welt.

Und jetzt?, frage ich mich, als ich wieder zurückfahre. Ich habe das Gefühl, dringend etwas unternehmen zu müssen. Aber was? Vielleicht die Mailadresse des Physikers finden und ihm schreiben, dass alles gut wird. Ja, das wäre sinnvoll.

***************

Der Schnee ist so dicht, dass man nichts, gar nichts, sehen kann. Die Ortungsgeräte empfangen kein Leuchtturm-Signal. Zum Glück übernimmt der Autopilot und landet – ruckelig aber sicher. Die Eisfestung wirkt völlig verlassen. Ist es eine Falle? Oder soll das so – etwa damit niemand Ungebetenes hier eine Basis vermutet und herkommt? Nach dem Aussteigen fällt der Blick auf das Pentachoron-Symbol an einer der Stahltüren. Es wurde wohl gerade erst angebracht, denn die Farbe ist noch feucht. Die letzte Folge des Podcasts klang verzweifelt. Zu recht. Die Dinge laufen gerade ziemlich verkehrt. Vielleicht ändert sich das ja, wenn man erstmal drüben ist.

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Leder-Menschen

Es ist fünf Uhr morgens an einem Samstag im April als ich davon aufwache, dass die Motorradschlampe mich anruft.
„Ich habe seit ein paar Wochen immer wieder den gleichen Traum“, sagt sie.
– „… was?“, frage ich.
„Ich habe seit so einem Monat immer wieder den gleichen Traum. Ich hatte ihn eben gerade wieder. Ich hab überlegt, mit wem ich darüber sprechen kann und mir bist nur Du eingefallen.“
– „… cool.“
„Ja.“
– „…“
„Immer wieder der gleiche Traum.“
– „Worum ging es?“
„Ich sehe eine Burg.“
– „Und dann?“
„Nichts. Das war’s“, sagt sie und klingt als würde sie sich im Bett aufrecht hinsetzen.
– „In dem Traum, den Du immer wieder hast, siehst Du eine Burg.“
„Ja.“
– „Ok.“
„… so eine Burg halt. In dem Traum sehe ich keine Details. Oder ich kann sie mir nach dem Aufwachen nicht merken. Aber ich habe diesen Traum schon eine ganze Weile.“
– „Ich verstehe.“
„Ja. Hmmh. Was bedeutet das?“
– „Ich weiß es nicht.“
„… Schade.“
– „…“
„…“
– „Aber gibt mir ein bisschen Zeit und arbeite mich da rein, in das Thema.“
„Wirklich?“
– „Ja, klar, ich mach das gerne.“
„Wie lange brauchst Du?“
Keine Ahnung. „Eine Woche?“
„Eine Woche klingt gut. Treffen bei mir, heute in einer Woche?“
– „Gut.“
„Ok, gut.“

Ich fange an, mich in das Thema „Träume“ hineinzulesen. Dazu gibt es wirklich viel. Es gibt anscheinend mehrere Gründe, warum man von einem Ort träumt. Entweder weil man da selbst war und es eine besondere, aber vielleicht verdrängte Bedeutung für einen hat. Oder weil man davon mal gehört hat und das Unterbewusstsein es sozusagen als Metapher für etwas anderes nutzt, was sie sich nicht eingestehen kann oder will. Oder, das habe ich von einer Esoterik-Seite, weil dort mal ein geheimes Unrecht geschah und das Opfer über Träume versucht, darauf hinzuweisen. Letzteres ist natürlich Eso-Unsinn. Ich schaue nach, welche Burgen es so im näheren Umkreis von uns gibt. Es gibt so fünf in der Umgebung und sieben, wenn man ein bisschen weiter guckt. Ich schreibe sie mir auf.

Als die Motorradschlampe eine Woche später in mein Wohnzimmer tritt, bleibt ihr Blick an einem gerahmten Bild hängen. Sie hat mal ein Foto von einem neuen Tattoo von sich auf Instagram gepostet und ich habe es auf Postergröße gezogen und ausgedruckt.
„Du hast Dir das aufgehängt?“, fragt sie, ein bisschen belustigt.
„Naja, wenn Du das ins Internet stellst, dann muss Du damit leben, dass Leute sich das ausdrucken …“
„Schon gut“, sagt sie schmunzelnd, „aber das hast Du Dir doch nur aufgehängt, weil man darauf meinen halben Arsch sieht.“
– „Nein, nein … ich hätte’s mir auch aufgehängt, wenn es Dein Unterarm wäre.“
„Ok“, sagt sie und sieht aus als sei ihr gerade etwas klar geworden.
Ich hole das Tablet und wir setzen uns.
„Es gibt sieben Burgen, die man von hier aus gut erreichen kann. Wir könnten die alle abfahren und schauen, ob eine davon die aus Deinem Traum ist. Ein paar gleich um die Ecke, ein paar ein bisschen weiter weg und bei zweien müsste man sehr früh losfahren und wäre dann erst abends wieder zurück.“
„Aha, nice.“
– „Also zum Beispiel immer am Wochenende, könnten wir ja so hinfahren und so …“
Ich schaue sie an. Zu meiner großen Überraschung sagt sie:
„In Ordnung.“

Unsere erste Fahrt führt uns zu der halb erhaltenen, halb wiederaufgebauten Ruine einer Burg im mecklenburgisch-niedersächsischen Grenzland. Hier haben sich die Wenden verschanzt, während die Sachsen sie insgesamt 30 Tage belagerten, letztere letztlich erfolgreich, um dann anschließend von hier aus die Elbe zu überqueren. Wir gehen in den Innenhof und wieder raus, einmal herum. Die Motorradschlampe sagt, dass es ist nicht die Burg aus ihrem Traum ist.
„Willst Du sie Dir nicht nochmal genau anschauen?“
– „Nee, wozu? Ich sehe doch, dass es nicht die richtige ist.“
„Naja, ok.“
Ich schaue auf Wikipedia, ob es hier trotzdem noch etwas Interessantes gibt, was man sich auf-den-zweiten-Blick anschauen kann. Es ist einfach ein schöner Tag, so mit der Sonne und so und sie schaut mich lange von der Seite an und sagt:
„Ach, was soll’s. Zieh Dich aus.“
– „Was?“
„Zieh Dich aus.“
– „Hier?“
„Ja, ist doch keiner außer uns da“, sie knöpft ihre Hose auf, „oder willst Du nicht?“
Ihre Augen glitzern, das Blau darin leuchtet und es leuchtet über ihre Augen hinaus, wie ein Bergsee, in den ich springe, in den wir beide springen und uns unter Wasser suchen und finden und finden und halten und halten und halten und
halten.


Wir laufen zu den Motorrädern zurück, ich habe ein bisschen Hunger und merke erst bei diesem Merken-dass-ich-hungrig-bin, was da eben gerade passiert ist, alles klar, merke ich, alles klar, so this happend. Ich fahre sie bis zu ihrem Zuhause zurück.
„Nächstes Wochenende wieder?“, frage ich.
– „Klar. Ich will diesen Ort finden.“

BURGEN. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal mit diesem Thema beschäftigen würde. Andererseits fahre ich jetzt ja auch Motorrad und das wäre mir auch nie eingefallen, wenn ich sie nicht getroffen hätte. Naja, „Motorrad“, das was man eben fahren darf mit einem Autoführerschein. Die Motorradschlampe nennt es immer „Toilette“ („Könntest Du Deine Toilette mal etwas zur Seite schieben, ich will neben Dir parken.“) Es gibt übrigens s o v i e l e Burgen in Deutschland, je länger ich suche, desto mehr finde ich. Große und kleine, solche, die von den sie bewohnenden Adelsfamilien renoviert wurden und solche, deren Familien schon vor Jahrhunderten ausgestorben sind. Die meisten haben mindestens einen dunklen Fleck in ihrer Geschichte. Bei manchen steht in der Beschreibung im Internet, dass es darin spukt. Ist natürlich Quatsch, sollte es wirklich Gespenster geben, wäre es doch sehr viel sinnvoller wenn die einem eine konkrete Info über sich geben würden, statt dumm herumzuspuken. Bei manchen Burgen muss man Eintritt zahlen, bei anderen nicht. Die Burgen im Süden sind im Süden meistens größer als die im Norden. Wenn eine Burg erobert wird, dann schleifen die neuen Herren als erstes den Hinrichtungsplatz, sodass man heutzutage meistens nicht weiß wo die waren. Wenn eine Burg verfällt, verfallen die Türme als erstes und die Brunnen als letztes. Wenn in Westdeutschland von einer Burg eine Mauer und ein paar Steine übrig geblieben sind, dann kriegt die Mauer ein eigenes Museum und jeder einzelne Stein eine eigene Website. In Ostdeutschland gibt es Burgen, die fast komplett erhalten sind und aussehen, als seien sie direkt aus Herr der Ringe und trotzdem interessiert sich da niemand für. Im Osten waren wir an vielen solcher Burgen, wo es gerade mal eine Infotafel gab. Irgendwie ungerecht.

In der nächsten Burg hat Niklot, der Abodritenfürst, gegen Heinrich den Löwen gekämpft. ‚War das letztes Mal eigentlich ein Versehen?‘, überlege ich auf der Fahrt dorthin. Aus der Situation, dem Affekt heraus? Wir haben uns seitdem nicht gesehen. Aber sie wartete pünktlich zur geplanten zweiten Tour vor ihrer Haustür darauf, dass ich sie abhole. Vielleicht sollte ich so etwas sagen wie ‚War doch ganz schön, letztes Mal. Könnten wir doch heute wieder machen?‘ Klingt das zu unsicher? Oder zu pushy? Letztes Mal ging die Initiative von ihr aus, vielleicht sollte sie dieses Mal von mir ausgehen. Oder lieber nicht ansprechen? Einmal und nie wieder? Es gibt ja so Dinge, Momente, die im Leben nur ein einziges Mal passieren und man wird nur unglücklich, wenn man hofft, dass es wiederkommt. Hmmh, vermutlich schon. Ja, das ist besser so. Bei sowas dankbar sein, dass es überhaupt passiert ist.
Wir kommen an; man kann bis ganz an die Burg fahren. Ich fahre vor und höre, wie sie hinter mir stehen bleibt. Noch auf dem Motorrad sitzend, ziehe ich den Helm aus, sie kommt auf mich zu, beugt meinen Kopf nach vorne und beißt mir in den Nacken. So richtig fest, dann geht sie vor mir in den die Burg umschließenden Wald, ich gehe ihr hinter. Sie bleibt schließlich an einer Buche mit tief hängenden Ästen stehen, lehnt sich an und schaut mich zwischen Buchenblättern an, in ihren Motorradklamotten ist sie ein schwarzes Leuchten im matten Grün. Ich merke, wie sich mein Verstand schon wieder verabschiedet. Sie knöpft ihr Stachelarmband auf und lässt es auf den Boden fallen, den Kapuzenpulli ebenso. Ihr Be-Ha ist mit einem Fraktal bestickt und das sieht so kunstvoll, so crazy und ungewöhnlich aus.
„Na, eingefroren? Mach ihn doch auf.“

„Wollen wir uns noch die Burg anschauen?“, frage ich als wir wieder bei den Motorrädern sind.
– „Nee. Die isses eh nicht.“

Es spielt sich ein gewisses Muster ein: Wir fahren zu einer Burg, sie checkt ob es die Burg aus ihrem Traum ist, nein sie ist es nicht, wir vögeln, anschließend essen wir an einer Imbissbude Bratwurst und Pommes, dann begleite ich sie nach Hause und fahre schließlich selbst nach Hause. Bei der vierten Burg bestellt sie testweise Süßkartoffelpommes, findet die blöd und wir tauschen unsere Teller. Ich stochere ein bisschen in den Süßkartoffelpommes herum und sage dann:
„Du nennst mich doch immer bei meinem Vornamen.“
– „Ja? Und?“
Ich schlage einen für die Motorradszene typischen männlichen Kosenamen vor, bei dem sie mich, in Anbetracht unserer jetzigen Situation, nennen könnte.
Sie lacht laut auf. „Ich weiß immer nicht, wo Du diese Ausdrücke her hast. Wir reden so nicht und wenn dann nur ironisch. So reden Leute, die Motorräder nur aus Serien kennen.“
– „Aber als ich Dich gefragt habe, wie Du heißt, hast Du doch auch …“
„Ja, aber gerade weil das auch so ein Cliché-Wort ist! Ich weiß nicht, warum ich es in dem Moment gesagt habe. Und ich wusste nicht, dass es so sehr bei Dir hängen bleibt. Wir schauen im Club manchmal so Mainstream-Motorradfilme. Oder Krimis mit Motorrädern. Und lachen uns dann kaputt über die Scheiße, die die Leute darin labern. Man merkt richtig, dass Fernseh-Fuzzis niemanden kennen, der Motorrad fährt.“
– „Wenn Du’s blöd findest, kann ich Dich auch bei Deinem Vornamen nennen.“
„Nein, lass nur. Irgendwie find es … keine Ahnung … witzig, wenn Du mich so nennst. Es passt irgendwie ganz gut zu Dir.“
– „Ok. Sag ansonsten Bescheid, also ich …“
„Passt schon. Wir müssten im Übrigen los; heute ist wieder T-e-a-m-s-i-t-z-u-n-g im Club. Ich terrorisiere alle dahin, dass sie pünktlich sein sollen, da kann ich nicht selbst zu spät kommen.“

Am Ende einer der Straßen, die vom Bahnhof wegführen, am Waldrand, steht so eine Art Schuppen, eine Garage. Das ist ihr Club. Man hört manchmal, dass jemand ein ganz anderer Mensch ist, wenn er ins Büro kommt. Die Motorradschlampe ist allerdings immer noch der gleiche Mensch, immer noch ganz sie, als sie in den Club kommt; sie ist es aber so wie wenn man aus einem Supermarkt herauskommt und es heftig regnet und man jetzt durch den Regen zum Auto laufen muss: bisschen genervt, bisschen wütend, sehr entschlossen. In dem Club riecht es wie in der (schon lange, lange nicht mehr existierenden) Videothek in meiner Heimatstadt: Nach Zigarettenrauch und verschüttetem Bier.
Es ist voll wie in einer Kneipe zu Stoßzeiten. Sie geht vor, man macht ihr Platz, schüchtern trotte ich hinter ihr her. Die dünne kurzhaarige Mischka, die ich schon kenne, schließt sich ihr an und sagt:
„Super, dass Du da bist, Boss. Es ist gerade ein bisschen viel auf einmal. Ich habe Dir die Sachen für heute mal ausgedruckt.“
Die Dünne gibt ihr ein Blatt und sie gehen zu einem Tisch, an der ein kahler Rocker mit langem Bart schon auf sie wartet. Die Motorradschlampe setzt sich, als einzige. Der Typ mit Glatze legt ihr wortlos einen dicken Umschlag hin.
„Superpünktlich wie immer“, sagt sie, „so können wir arbeiten.“
„Wir haben doch vereinbart, dass Du das mir gibst und ich gebe es dann Jette“, sagt die Mischka zu dem Kahlen, in dem fordernden Tonfall, den man benutzt, wenn man möchte, dass noch jemand Drittes es hört.
„Nein. Nichts haben wir vereinbart“, pampt er zurück, „Du hast gesagt, dass wir das so machen und mir war es egal, was Du sagst.“
Die Motorradschlampe, das ‚viel auf einmal‘-Blatt betrachtend, sagt: „Klärt ihr das untereinander bitte, ja?“ Der Glatzköpfige geht wortlos weg. Die Motorradschlampe unterstreicht etwas auf der Liste.
„Danke hierfür, Mischka, das ist sehr hilfreich und das machen wir ab jetzt immer so. Sei ein Schatz und bring mir einen Kaffee und können dann anfangen.“
Mischka dreht sich, zum ersten Mal, zu mir um und starrt mich demonstrativ an.
„Ah, richtig“, sagt die Motorradschlampe und wendet sich an mich: „Du musst jetzt gehen.“
Das hätte sie auch netter sagen können. Egal. Ich gehe raus. Vor dem Club steht der Glatzköpfige und raucht.

„Bist Du Zahnarzt oder gerade geschieden?“, fragt er mich.
– „Äh … was?“
„Naja, wenn Typen wie Du hier auftauchen, sind sie entweder Zahnarzt oder gerade frisch geschieden.“
– „Typen wie ich?“
„Ja, Typen wie Du. Die so aussehen und reden wie Du.“
– „… Ich bin mitgekommen“ und zeige in Richtung der Motorradschlampe.
„Ach, Du bist das also? Es heißt, dass Jette … jemanden hat.“
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
„Woher kennst Du sie eigentlich?“, fragt er mich.

WOHER ICH SIE KENNE. Das war so ungefähr vor einem Jahr. Ich liege auf der Couch in meiner Wohnung und jemand rüttelt mich wach und fragt:
„Hast Du ein Konterbier?“
Nein, anders, ich muss diese Geschichte früher anfangen, so zwölf Stunden vorher:
Das war an einem Samstag, „Biker Mice from Mars“ war neu auf Netflix, alle drei Staffeln, ich wollte das Wochenende nutzen um das durchzubingen. Ich bin in der Nacht auf Sonntag schon so dreiviertel damit durch. Beschließe, kurz Pause zu machen um Bier und Süßzeug zu holen. Der Kiosk am Bahnhof hat schon zu, daher laufe ich zum Inder. „Biker Mice“ ist eine Hammerserie, schade, dass so was heute nicht mehr produziert wird, denke ich, mache die Tür zum Inder auf und pralle heftig mit einer gerade herausrennenden dünnen Frau in Lederklamotten zusammen, von der ich zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass es Mischka ist. Sie stößt mich wütend zur Seite und rennt weiter. Ich betrete den Laden. Drinnen stehen drei junge Trucker. Ein vierter, älterer Trucker liegt blutend auf dem Boden und bewegt sich nicht. An der Theke steht der Inder-Sohn und ihnen allen gegenüber steht die Motorradschlampe, mit einem Schlagring an der Hand. Das war das erste Mal, das ich sie gesehen habe. Sie ist so betrunken, dass sie dauernd hin-und-her wankt, aber immer noch nüchtern genug, dass sie begreift, dass hier etwas nicht ganz optimal läuft. Niemand sagt was, es wird noch nicht mal geatmet, sie starren einfach alle auf den auf-dem-Boden-blutenden-Trucker. Hätte der Inder-Vater heute Dienst, wüsste er, was zu tun ist, aber heute ist leider der Inder-Sohn an der Kasse und der ist genauso stumm und bleich wie die jungen Trucker. Auf einmal jault der am Boden auf, nicht laut, aber dass er überhaupt jault, ist anscheinend ein gutes Zeichen. Der Inder und die jungen Trucker atmen sichtlich erleichtert auf. Alle schauen zur Motorradschlampe. Die zieht sich den Schlagring ab, legt ihn auf die Theke an der Kasse, zeigt zu mir und sagt:
„Du. Ich schlaf heute bei Dir. Komm.“ That’s all. Sie kommt auf mich zu, an den Truckern vorbei, hakt sich bei mir unter, wir gehen raus, sie geht zunächst sehr schnell, dann übernimmt der Alkohol wieder, ich muss sie ein bisschen stützen und die letzten Meter fast tragen. Ich führe sie in mein Schlafzimmer, zeige auf das Bett und sage, super-sinnvoll:
„Hier kannst Du schlafen.“
„Prima“, sagt sie, lässt sich auf das Bett fallen, mit Klamotten und Stiefeln, schläft sofort ein und schnarcht. Ich gehe ins Wohnzimmer, mache die Serie wieder an und zittere ein bisschen vor Aufregung.

Ich liege auf der Couch in meiner Wohnung, der nächste Tag, es muss so Mittag sein, jemand rüttelt mich wach und fragt:
„Hast Du ein Konterbier?“
– „Hmmh?“
„Wenn man verkatert ist, muss man ein Konterbier trinken, dann geht es einem gleich wieder besser.“
– „Warte kurz, ich mache Frühstück“, sage ich und gehe zur Küche.
„Du müsstest vielleicht Dein Bett neu beziehen“, ruft sie mir hinterher.

Ich baue Frühstückssachen auf, darunter auch Bier, wir setzen uns.
„Konterbier ist überhaupt das Beste, glaub mir“, sagt sie, ext das Bier, stellt es ab, stößt auf, etwas Kotze läuft ihr aus der Nase, sie hält sich die Nase zu und kotzt dann aus dem Mund, einmal quer über den Tisch.
Wir schauen auf die vollgebrochenen Brötchen.
„Also, das frühstücke ich nicht mehr“, sagt sie sachlich.
Wir fahren zum McDonalds. Sie nimmt das alles mit einer gewissen Selbstverständlichkeit hin. Als wir ankommen sagt sie:
„Ach ja, ich muss Mischka anrufen, nicht dass die Schnappatmung bekommt.“ Nimmt ihr Handy raus, ruft jemanden an, beschreibt, wo sie ist und dass sie dort in so einer halben Stunde abgeholt werden möchte. Während wir draußen sitzen und Kaffee-und-Burger zu uns nehmen, frage ich sie:
„Wer bist Du überhaupt?“
– „Ach, ich bin nur eine … wie nennt Ihr das? Da gibt es so ein Wort … ach, stimmt …“, sagt sie und greift dann zu einem furchtbar vulgären Ausdruck. Ich bin überrascht, dass jemand das als Selbstbezeichnung benutzt.
Mischka kommt, stellt sich zu unserem Tisch, schaut mich nicht an und sagt zur ihr:
„Du … ….“
– „Ja, bitte?“, fragt die Motorradschlampe und klingt nach Neugier und Unschuld.
„Du …. hast mir ganz schön Angst eingejagt, als ich gestern mit den Jungs zurückgekommen bin und Du nicht mehr da warst. Egal, hier bist und bist noch ganz. Also alles gut. Aber“, Mischka nimmt den Schlagring aus der Jackentasche und hält ihn hoch, „bitte, bitte, bitte, lass so was nicht rumliegen. Das wird uns noch mal richtig Ärger einbringen. Soll ich Dir einen Kaffee holen?“
„Ich hatte schon Kaffee“, sagt die Motorradschlampe und sagt, aufstehend, zu mir: „War ein ganz schöner Morgen mit Dir. Meld Dich doch mal wieder.“

ALS ICH DAS DEM KAHLEN ERZÄHLE, LASSE ICH ETWA EIN VIERTEL WEG.
„Krass. Ich erinnere mich an den Abend“, sagt der Kahle, „Mischka stürmte hier rein und sagte, nein, brüllte ‚A l l e M i t k o m m e n S o f o r t‘. Als wir Jette in dem Späti nicht antrafen, bestand sie darauf, dass wir jetzt so lange nach ihr suchen, bis wir sie finden. Jette war auch nicht bei sich zu Hause. Es gibt so eine Truckerbar, das „Schlagloch“. Wir haben befürchtet, dass die Trucker aus dem Späti sie dorthin mitgezerrt haben. Da geht niemand von uns rein, nie. Mischka ist eine dumme, sich wahnsinnig wichtig machende Göre, aber sie, das muss man ihr echt lassen, war bereit reinzugehen und Jette da rauszuholen. Ich sagte ihr, dass wenn sie das tut, die Trucker sie einmal innen nach außen drehen. Und dass Jette auf sich aufpassen kann und, selbst wenn sie da drin sein sollte, was wir ja nicht sicher wussten, sie schon irgendwie zurechtkommen würde. Mischka sah das ein. Ich hatte ja auch recht: Zu diesem Zeitpunkt war sie anscheinend schon bei Dir.“
– „Und keiner von Euch hat gefragt, wo sie war, als sie dann irgendwann wieder hier auftauchte?“
„Nein. Wir waren natürlich neugierig. Aber man fragt halt Leute nicht nach sowas.“
– „Hmmh.“
Er zündet sich noch eine Zigarette an. Mischka kommt raus.
„Jette möchte wissen, warum …“, sie unterbricht sich als sie mich sieht, „Du bist immer noch hier?! Jetzt hör mal zu: Ich weiß nicht, was da Seltsames zwischen Dir und Jette läuft, aber Du bist keiner von uns. Und wirst das auch nie sein. Ich will Dich hier nicht mehr sehen. Leute wie Du haben hier nichts zu suchen.“
– „Es sei denn“, sagt der Kahle, „Du hast schlimme Zahnschmerzen und willst sofort behandelt werden, was? Da warst Du bei dem anderen Zahnarzt, der hier war, ja auf einmal ganz locker mit den Regeln.“
„Das war aber was anderes!!! Der hat ja nicht mit Jette … Der wollte ja einfach nur hier abhängen … was mischt Du Dich denn da eigentlich ein??“
Ich fühle mich der Transparenz halber verpflichtet, Folgendes zu bedenken zu geben: „Ich bin kein Zahnarzt.“
„Du verpisst Dich jetzt“, sagt Mischka und geht wieder rein, die Tür hinter sich zuknallend. Dann fällt ihr anscheinend ein, dass sie ja was von dem Kahlen wollte und macht die Tür nochmal auf, aber nur einen Spalt breit und redet über die fast geschlossene Tür hinweg mit ihm.

Als ich die Motorradschlampe ein paar Tage später abhole, um die nächste Burg zu besichtigen, sagt sie: „Lass uns mal vorher einkaufen fahren. Wenn Du mit mir Motorrad fährst, kannst Du nicht diese Jacke tragen, sowas tragen nur Deppen.“ Wir fahren zu einem Laden, der von außen ein bisschen nach Tattoostudio aussieht. Sie ruft jemanden an:
„Rosa? Ich stehe hier vor Deinem Laden. Machst Du uns auf, ja? Bis gleich.“
Und dann zu mir: „Rosa wird uns gleich aufmachen. Der wohnt auch hier, so hinter dem Laden.“
– „Und …“, nicht dass das wichtig wäre, ich frage einfach so, es ist wirklich nicht wichtig, ich hätte auch nach dem Wetter fragen können, „… woher kennst Du ihn?“
„Von dem Motorradgottesdienst.“
– „Woher?“
„Dem Motorradgottesdienst. Einmal im Jahr gibt es in der großen Hansestadt einen Motorradgottesdienst. Wir fahren da nie hin. Aber dieses Jahr, wegen Corona und so, hat der Pastor die Hamburger angerufen und gesagt, dass es eines der wenigen Events ist, die überhaupt stattfinden dürfen, weil es draußen ist und so und dass sie außerdem Grillzeug kaufen werden und wenn wir wollen, können wir nachher auf deren Kirchwiese grillen und die Hamburger haben dann mich angerufen und gefragt, ob wir nicht auch kommen wollen und ich sagte ‚in Ordnung, wir kommen auch‘.“
– „Hmmh.“
„Das war zum ersten Mal seit meiner Konfirmation, das ich bei so einer Kirchensache war und ich fand’s ganz nett, so Gutes tun und so. Ich habe mir sogar gedacht ‚Wenn es jemanden gibt, dem ich helfen kann, dann soll sich die Person bei mir melden‘. Das war etwa vor einem Monat.“
Rosa, der größte und breiteste Mann, den ich bislang gesehen habe, macht uns, von innen, wortlos auf. Drinnen sind so Bikerklamotten, alles mögliche, auch Gürtel und Schuhe, aber auch Krams und Tom Waits-LPs. Die Motorradschlampe browse-t ein bisschen durch die Jacken.
„Hier, hör mal. Was Du da trägst, das ist eine Jacke für Wichser, die auf Macker machen wollen. Das dagegen“, sie nimmt eine Jacke vom Bügel und hält sie fröhlich hoch, „ist eine Kutte.“
Ich ziehe sie an, schaue mich im Spiegel an und sehe kaum einen Unterschied zu meiner jetzigen Jacke.
„Gefällt sie Dir an mir?“, frage ich.
– „Joa. Joa, schon.“
„In Ordnung, dann nehme ich sie.“
Rosa steht an der Kasse: „Nur bar. Willst Du eine Tüte für Deine alte Jacke?“ Ja, gerne.

Sie beobachtet mich, wie ich zum Motorrad zurückgehe und aufsteige.
„Was hast Du neulich vorgeschlagen?“, fragt sie, „ach, ja: ‚Lederstecher‘. Ist gebongt, ich werde Dich jetzt so nennen. Mein Lederstecher.“
– „Ja. JA. AufjedenFall: Dein, Dein, Dein Lederstecher. Ich bin gerne Dein Lederstecher.“
„Knutschen?“, fragt sie, „jetzt Knutschen?“
– „Wir können zu mir fahren. Oder zu Dir, das ist näher. Aber dann heute nicht mehr zu Burg?“
„Achso, wir machen ja unser Burgen-Ding. Nein, im Ernst, das mit den Burgen ist mir wichtig, ich träume mittlerweile jede Nacht davon und mir kommt es vor als würde ich auf ein Foto schauen. Aber wenn ich versuche, mir Details zu merken, etwas woran man diese Burg identifizieren kann, verschwimmt es irgendwie, wird es nicht greifbar.“
– „Fällt Dir denn irgendetwas an dieser Burg auf? Hast Du sie vielleicht schon mal als Kind gesehen?“
„Nein. Aber beim letzten Mal träumte ich nicht nur von dieser Burg, da war noch was anderes. Ich sah wie ich auf einem Stuhl stehe. Gerade habe ich irgendwas gemacht. Ich werde an den Haaren von dem Stuhl runtergezogen und irgendwo rausgeschleift. Also, nicht ich-ich. Ich sehe es so als hätte ich es erlebt, aber in dem Traum weiß ich irgendwie, dass das nicht ich bin, sondern jemand anderes und ich es nur durch die Augen dieser Person sehe.“
– „Habe mir jetzt ein paar Bücher über Traumdeutung gekauft – ich werde es nachschlagen und Dir sagen, was es bedeutet“, sage ich und fühle mich hilfreich und unterstützend.


Ich fahre spazieren. Das mache ich in letzter Zeit häufiger, so abends unter der Woche. Hauptsächlich, um bei unseren Touren einigermaßen mit meiner Motorradschlampe mithalten zu können, zumindest ein bisschen, sodass sie nicht dauernd auf mich warten muss. Aber mittlerweile, und so auch heute, weil ich es gerne mache, es ist ganz schön. Man lernt ein bisschen die Umgebung kennen und sieht lauter Orte, Wiesen, Felder, Straßen, die man sonst nicht sehen würde. Man würde ja nicht mit dem Auto einfach so spazieren fahren und ich kann nicht spazieren gehen, ohne mich zu fühlen als sei ich 90. Mit dem Motorrad geht es aber. Ein anderes Motorrad hupt mich auf einmal von hinten an, überholt mich, schert ein und bremst dann ab, sodass ich auch bremsen muss, um es nicht zu crashen. Das andere Motorrad fährt wieder los, ich auch und bremst dann wieder fast ganz ab. Dieses Mal komme ich so nah, dass ich sehe, dass auf der Kutte in Heavy Metall-Lettern „MISCHKA“ steht. Ah, Du bist das. Sie streckt mir den Mittelfinger entgegen. Ist bestimmt anstrengend, beim Fahren den Arm ganz nach hinten zu strecken, aber anscheinend ist es ihr das wert. Was genau habe ich Dir getan, Mischka, dass Du so wütend auf mich bist? Egal, manchmal mögen Leute einen einfach grundlos nicht.

Bei der nächsten Burg bekommen wir im Eingangsbereich mit, wie eine nach Museums-Chefin aussehende Frau einer anscheinend neuen Mitarbeiterin etwas an der Kasse erklärt.
„Und wenn hier Kids mit Skateboards auftauchen: Nein. Immer nein. Auch wenn die nett sind, auch wenn sie Dir anbieten mitzumachen, auch wenn sie sagen, dass sie nur ganz langsam skaten und leise Musik hören werden: Nein. In der Burg wird nicht geskatet.“

In der Burg ist es wahnsinnig kalt, auch für Burg-Verhältnisse, dabei ist es eigentlich warm draußen. Ich habe bei der Vorbereitung unserer Fahrten herausgefunden, dass Prinzessinnenzimmer innerhalb der Burg häufig so ausgerichtet sind, dass sie am meisten Sonne abbekommen. Wir gehen da hin, vielleicht ist es da ein bisschen wärmer.

Es ist ein bisschen wärmer, ja, aber immer noch wahnsinnig kalt. Liebe im Stehen? Liebe im Stehen. Ich greife ihr um die Kniekehlen und hebe sie hoch, ganz schön, das sollten wir öfter so machen.
„Geh zu dem Kronleuchter“, sagt meine Motorradschlampe. Ok.
Sie hält sich daran fest – Hammer – und ich habe den Eindruck, dass sie es auch ganz angenehm findet, doch auf einmal guckt sie überrascht und hört auf mitzumachen.
„Heb mich mal hoch“, sagt sie. Ich mache es. Sie richtet sich auf und greift nach etwas, das in dem Kronleuchter liegt. Es ist ein Stück Pergament, beschrieben in schwarzer Tinte oder vielleicht mit Kohle.
„Lass mich mal runter“, sagt sie und schaut sich dann das Pergament aufmerksam an. Sie legt es auf unseren Klamottenhaufen.
„Alles klar, kann weiter.“

Nachdem wir durch sind, würde ich uns gerne was zu Essen holen, vor der Burg war ein kleiner Imbiss. Beim Rausgehen gibt sie der Chefin an der Kasse das Pergament.
„Hey. Das hier schon mal gesehen?“
Die Museums-Chefin guckt etwas reserviert auf meine Motorradschlampe, greift dann aber trotzdem zum ihr hingehaltenen Pergament und macht große Augen. „Das ist ja unglaublich! Die wurde also doch unschuldig geköpft. Wo haben Sie das bloß her?“ Mein Magen knurrt und die labern hier über irgendwelchen Unsinn. „Wir wollten doch noch Pommes essen“, sage ich, ungeduldig.
„Ja, stimmt. Ok, lass uns gehen.“
„Aber … nein, warten Sie, woher haben Sie das?“, sagt die Museums-Chefin, aber wir gehen schon, vielleicht gibt es auch Currywurst, das wäre doch ganz schön.

„So“, sage ich als wir essen, „dann nächsten Samstag die nächste Tour?“
Meine Motorradschlampe dreht ihre Cola-Flasche hin-und-her.
„Unsere Touren sind ziemlich wichtig für Dich, was?“
– „Ja. Also ich meine: Nur bis wir Deine Burg gefunden haben. Aber ja, ich finde es ganz nice.“
„Wie viele sind denn noch auf der Liste?“
„Nicht mehr viele. So drei, vier.“
„ok.“
– „Träumst Du denn noch von der Burg?“
„In der Nacht auf heute habe ich davon geträumt, ja“, sagt sie und ergänzt, „in Ordnung, ja, nächste Woche weiter.“

Zwischendurch frage ich mich, ob ihr beständiges Träumen von dieser Burg nicht daher kommt, dass die Motorradschlampe selbst ein bisschen wie eine Burg ist und ihr Unterbewusstsein versucht sie darauf hinzuweisen, also dass sie offener sein und sich weniger ‚einmauern soll‘. Die nächste Tour läuft irgendwie schleppend. Die Burg ist ziemlich weit weg, es wäre eigentlich eine Sache für mit Übernachten gewesen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie das nicht wollen würde, also sind wir am selben Tag hin und zurück. Als ich sie nachts bis zu ihrer Haustür bringe, sagt sie: „Das war ein bisschen zu weit.“

Wir parken an der insgesamt zwölften Burg und steigen ab und in dem Moment weiß ich, dass es die letzte sein wird. Wir gehen hoch, zum Eingang und ich weiß gar nicht, woher ich das weiß oder was genau anders ist, aber ich spüre ‚Das war’s jetzt, es ist vorbei.
Sag es.
Komm schon, sag es, denke ich, ansonsten sag ich es. Denn ich merke, dass Du es sagen willst. Wir kommen beim Eingang an, sie sagt „ok, das ist die Burg aus meinen Träumen“ und wir gehen noch nicht mal rein, einfach zurück zu den Motorrädern, schweigend.

Wir machen uns an die Rückfahrt. Ich versuche, mich erwachsen zu verhalten. Menschen verschwinden. Das ist bereits vorher passiert und das wird auch wieder passieren. Ich versuche mich nicht darauf zu konzentrieren, dass es jetzt vorbei ist, sondern dass es überhaupt passiert ist. Aber dieses Argument gilt irgendwie nur so halb, weil wenn es nicht passiert wäre, würde es mir jetzt auch nicht fehlen. Man muss doch irgendetwas dagegen nehmen können, Tabletten, die einem so Erfahrungen ersparen. Endorphinblocker oder so.
Werden wir jetzt die ganze Rückfahrt über schweigen? Soll ich was sagen? Hätte ich vorhin was sagen sollen? Auf einmal meldet sie sich über Funk:
„Weißt Du, Du bist ein guter Beobachter, Du nimmst viel wahr und so. Aber Du missverstehst vieles auch krass. Und wenn Dir etwas nicht in den Kram passt, dann blockst Du das einfach, dann siehst Du das gar nicht.“
– „Aber. Dann sag mir doch, wie ich es richtig verstehe. Also … das ist jetzt auch ein unfairer Vorwurf.“
Ich höre, wie sie ansetzt, noch etwas zu sagen, aber es dann doch nicht tut. Wir schweigen-fahren wieder. Auf dem Weg zurück fährt sie vor mir und macht ein paar Tricks, balanciert auf dem Hinterrad, dreht Schleifen und so. Die kann wirklich gut fahren.

Wir kommen zu der Kreuzung, wo es zu ihr geht.
„So, ich muss jetzt hier abbiegen“, sagt sie, „war schön mit Dir. Mach’s gut.“

Glück

Ein Kind rennt durch die Stadt, ein Hund rennt neben ihn. Der Junge hat eine Wurstkette in der Hand und er hat sie ganz sicher nicht gekauft. Sie werden von einem wütenden Metzger verfolgt; immer wieder hat er sie fast gefasst, immer wieder entwischen sie ihm. Dabei laufen sie über quer über den Markt, durch die Ziegelei und über den Kirchplatz, bei jedem Mal jemanden anrempelnd oder über etwas drüberlaufend oder etwas umwerfend und werden dabei wüst beschimpft, macht nichts. Der Hund versteht nicht so recht, warum sie rennen, es ist ihm aber auch nicht so wichtig, rennen macht Spaß und es so ein herrlicher Tag, die Sonne scheint und nachher gibt es, wenn es gut läuft, Würste.

Südstaatler

In der Praxis, in der meine Frau arbeitet, absolviert ein junger Österreicher ein Praktikum. Heute hat sie ihn zu uns zum Abendessen eingeladen. Es gibt Tortilla, es hat Spaß gemacht das zuzubereiten. Der Arzt-im-Praktikum hat ein Wissensquiz-Spiel mitgebracht. Die Karten kennt er anscheinend auswendig, denn er gewinnt jede Runde. Kein Problem. Während die Sonne unaufdringlich untergeht, trinken wir literweise Weißwein. Als es dunkel wird, gehen wir raus, rauchen auf dem Balkon und aschen in die Blumen.

Die Regenmacherin

Ich bin dabei, meine Morgen-Routine abzuschließen, deutlich, d e u t l i c h früher als ich mich sonst an einem Samstag dazu bringen könnte, denn für das Magazin für das ich von Zeit zu Zeit schreibe, fahre ich heute nach Bad Aussee, einem kleinen Ort in der Steiermark, um über eine Art „Regen-Festival“ zu schreiben, dass dort einmal alle zehn Jahre stattfindet. Woistschonwiederdasaftershave?! ich muss mir endlich angewöhnen, alle Alltagsdinge immer an die selbe Stelle zu stellen, dann müsste ich sie auch nicht ständig suchen. Dauernd verbummele ich meine Sachen. Wie oft musste ich früher meinen Eltern beichten, dass ich schon wieder meinen Turnbeutel verloren habe, grrr, das ist mir auch heute noch peinlich. Mir fällt auf, wie spät es schon ist. Wie immer wenn ich angespannt bin, greife ich reflexhaft zu meinem Nippelpiercing. Es ist höchste Zeit loszufahren, wird wohl nichts mit noch frühstücken, wirklich super. Und, ja, das war dumm, mit dem Auto fahren zu wollen. Ich hätte stattdessen a. mit dem Zug fahren sollen und b. schon gestern. Hätte, hätte, hätte. Was brauche ich heute? Ich nehme nur Unterwäsche und den Reiseführer und ein bisschen Reisezeug mit und gehe zum Auto. Den Reiseführer habe ich antiquarisch gekauft. Die oder der Vorbesitzer benutzte um Unterschreiben fröhlich bunte Textmarker, nice.

Der Auftrag kam kurzfristig und ich hatte nicht so viel Zeit, mich vorzubereiten. Ich mailte mir in der letzten Woche mit der Veranstalterin des Regenfestivals hin-und-her. Ihre Mails hatten so einen kraftvoll-optimistischen no bullshit-Ton: zack! Es findet dann-und-dann statt, zack! hier die Adresse, zack! „Sie werden nicht als Teilnehmer da sein, sondern als Beobachter; dafür müssen sie auch nicht die Teilnahmegebühr bezahlen. Die Regenmacherin wird im Laufe des Abend eintreffen.“

Je weiter ich in den Süden fahre, desto kahler sind die Bäume. In dem norddeutschen Speckgürtel in dem ich wohne, regnet es die ganze Zeit (naja, fast), dort kommen die Bäume besser zurecht. Ab Kassel südwärts sieht es immer schlimmer aus, ganze Waldhänge trocknen ihrem Tod entgegen. Und das nur der Teil, den ich von der Autobahn aus sehe, beunruhigend.

Das Navi lässt mich so wahnsinnig lange Zeiten ohne Abbiegen fahren, „Folgen Sie dem Straßenverlauf für die nächsten drei Stunden und halten Sie sich dann rechts“. Erst nachdem ich über die Grenze gefahren bin, wird derdiedas Navi ein bisschen wacher. Ah, stimmt, hier ist Hallstatt um die Ecke. Im Reiseführer ist ein ganzes Kapitel nur über diese Stadt, die Autoren überschlagen sich mit Lob. „Wenn Sie nur eine einzige Stadt besichtigen, dann besichtigen Sie diese hier!“ befiehlt der Reiseführer eher als dass er es vorschlägt.

Ein bisschen gerädert komme ich schließlich bei der Adresse an, die mir die Veranstalterin genannt hat. Es ist eine Wiese an einem See, rechts daneben fröhlicht ein kleiner Spielplatz vor sich hin. Es ist schon spät, aber die Tage sind gerade lang und es dauert noch ein paar Stunden bis zum Sonnenuntergang. Ich frage mich bis zur Veranstalterin vor. Sie spricht so wie ihre Mails klangen: „Schön, dass Sie da sind. Früher kam mehr Presse zu unseren Festen.“
„Ich würde gerne ein Interview mit der Regenmacherin führen.“
„Die Regenmacherin ist noch nicht da. Nehmen Sie sich etwas vom Buffet“, sagt sie und ergänzt, dass sie jetzt prüfen müsste, ob genug Feuerlöscher da sind, man habe einige Feuer gemacht. Davor bittet sie einen Typen in einem Nazca-Tshirt mehr Sprudelkästen aus einem der Sprinter zu holen. Ohne einen Ansprechpartner zu haben, drifte ich ein mal-hierhin und mal-dorthin. Manche Leute dancen ein bisschen, ein paar machen Yoga, die meisten stehen in kleinen Gruppen zusammen und unterhalten sich. Ein Mann trägt einen großen, flachen Korb. Darin sind getrocknete Ringelblumen-Blüten, die er mit der ganzen Hand rausnimmt und in die Menge wirft. Eine Frau sitzt unter einer etwas traurig aussehenden Rosskastanie und faltet Origami-Tiere. Ich komme näher. Sie hat schöne Hände und reicht mir einen Papierphönix. „Darf ich den behalten?“, frage ich (vorsichtshalber, aus ähnlichen Situationen gelernt habend). Sie nickt. Ich gehe weiter und bleibe schließlich an einem Zelt stehen, das genau in der Mitte des Geländes steht. Darin hängt eine Art Umhang sowie Kopfschmuck und Knöchelbändchen. Alles aus demselben Material, so kleine dünne Hölzer, in mehreren Schichten übereinander und mit etwas kleinem, hartem gefüllt, vielleicht getrockneten Erbsen. Wenn man mit der Hand durchfährt, macht es ein Geräusch als würde es regnen. Am Boden liegt eine mit Leder bespannte Trommel. À propos Musik: Ich habe so halb erwartet, dass auf dem Festival Live-Musik sein wird, von Leuten, die in Percussion-Kreisen sitzen oder so, aber es läuft Elektro-Ambient-Musik aus Lautsprechern. Als ich aus dem Zelt rauskomme, steht dort ein Typ und raucht. Der Typ trägt Ledersandalen und eine Art kurzen Umhang, ansonsten nichts. Er ist sehr hager und hat so Beine wie sie Sportradfahrer oder Fahrradkuriere haben.
„Habe gerade das Kostüm gesehen“, sage ich, „es macht ein regenähnliches Geräusch, die Regenmacherin wird es ja vermutlich nachher tragen.“
„Nein, wird sie nicht. Aber Du hast recht: Magie bedeutet, etwas zu machen, das dem, was Du möchtest ähnlich ist“, sagt der hagere Halbnackte. Ich lasse ihn alleine weiterrauchen und bewege mich in Richtung der Yoga-Gruppe.

Eine Yoga-Frau kommt auf mich zu. Ihre Arme sind mit floralen Bildern tätowiert und sie hat die strengen Gesichtszüge einer Juristin oder einer Abteilungschefin. Sie bewegt sich auf die abgefederte, schwerelose Art, die Yoga-Menschen manchmal zu eigen ist und spricht mit dermaßen starkem Dialekt, dass ich nicht ein Wort verstehe. Sie hält zwei Gläser Fruchtsaft (Smoothie? Bio-Energydrink?) und bietet mir eines davon mit einer freundlichen Geste an. Es ist das bitterste, das ich jemals getrunken habe. Vielleicht auch das gesündeste, wer weiß, aber so bitter, dass ich jetzt gerne meinen Kopf in einen Sack Zucker stecken würde. Die Yoga-Frau lacht und sagt etwas, das ich abermals nicht verstehe.

Neben einem großen Lagerfeuer gibt es noch mehrere kleinere. Ich sehe den hageren Typen an einem davon stehen und stelle mich neben ihn.
„Jetzt ist es so heiß und trocken“, sage ich, “ aber ich sehe schon, wie es, sobald ich diesen Ort verlassen habe, anfangen wird wie aus Kübeln zu schütten und meinen ganzen Heimweg über weiterregnen wird; mir zum Trotz.“
„Du nimmst Dich ziemlich ernst, was?“, sagt der Hagere und lacht. Anschließend erklärt er mir, was es mit dem Festival auf sich hat: Wie sie es finanzieren, warum sie es an diesem Ort machen, wie er davon erfahren hat und so weiter. Er weiß ziemlich viel hierüber, gut dass ich ihn getroffen habe. Das sollte ich mir überhaupt für Schreibaufträge bei Events merken: Jemanden finden, der sich auskennt und mich dann an diese Person dranhängen.

Ein paar Festivalbesucher tragen Holz zu dem Hauptfeuer. Dass sie trotz der Dürre überhaupt so ein großes Lagerfeuer machen dürfen, liegt daran (wie ich nun weiß), dass sie in unmittelbare Nähe des Sees sind. So ziemlich alle anderen haben sich der Yoga-Gruppe angeschlossen. Sie machen alle die gleiche Übung. Sie sieht ziemlich eckig aus. Warum machen sie nicht etwas das mehr nach Regen aussieht? Es gibt im Yoga doch auch so (mir fehlt es an Yoga-Vokabular, um das präzise auszudrücken) weiche, fließende, „von-oben-nach-unten vollführte“ Übungen? Was die hier machen ist eine ziemlich harte, angespannte Übung, die viele Aufsteh-Bewegungen beinhaltet. Sieht trotzdem ganz cool aus, wenn die das alle gleichzeitig tun. Sie sind wahnsinnig gut synchronisiert, ein bisschen so wie ein einziger Körper, wie eine Welle.

Ich suche und finde den Hageren, der schon wieder raucht.
„Es gibt so eine Geschichte über einen Regenmacher“, sage ich, „in verschiedenen Versionen. Bei meiner Recherche hierfür, bin ich immer wieder darauf gestoßen.“
„Ach, ‚denn Regen wird nur verliehen‚ und so? Ein Märchen, mehr nicht.“
„Ist das nicht so euer Gründungsmythos oder so?“
„… ‚Gründungsmythos‘ ist so ein großes, hohles Wort. Das Problem ist, dass diese Ereignisse, falls sie überhaupt so passiert sind – und das ist ein großes ‚Falls‘ -, in einer, sehr hypothetischen, Urheimat stattfanden – wovon weder schriftliche noch sonstige Zeugnisse von geblieben sind. Vielleicht ist es so passiert – vielleicht nicht.“
„Hmmh.“
„Du hast eine andere Antwort erwartet, was, kleiner Star-Reporter?“
„Ehrlich gesagt: Ja. Auch so auf das ganze Event hier bezogen.“
„Was denn?“
„Naja, dass hier mehr Action ist. Dass Ihr hier so krasse Rituale aufführt und so.“
Er schweigt eine Weile und fragt dann: „Warum bist Du hier?“
„Um über Euer Festival zu schreiben.“
„Nein. Warum bist Du hier?“
„Hmmh“, ich bin mir nicht sicher, was er meint.
„Ja?“
„Naja, damit Leute überhaupt online Reportagen lesen, muss man immer über Schlüsselthemen schreiben. Noch besser ist es, wenn es zwei, drei Key-Topics in einer Sache zusammenfallen, wie zum Beispiel ‚veganes Binge-Watching‘. Bei Euch, hier heute Abend, geht es um Klimawandel und um so ganzheitliche Gesundheit und Spiritualität. Das sind beides Themen, die gerade …“
„Nein, nein. Warum. Bist. Du. Hier?“
Ich verstehe die Frage akustisch-semantisch, aber ich raffe nicht worauf er hinauswill.
„Äh … was?“
Ein anderer, nicht ganz so nackter, Mann kommt zu uns und sagt zu dem Hageren:
„Hier bist Du! Ich hab Dich gesucht. So langsam könnte man mal zum Bahnhof fahren.“
„Um die Regenmacherin abzuholen?“, frage ich.
„Ja“, sagt der Hagere, „komm mit, wenn du möchtest.“

Der hiesige Bahnhof hat nur vier Gleise. Der Veranstalterin, der Hagere (hat er sich für die Fahrt zum Bahnhof etwas angezogen? Nein. Ich beneide ihn ein bisschen um sein unverkrampftes Verhältnis zum eigenen Körper) und ich stehen am Bahnsteig. Niemand ist sonst zu sehen. Auf einem großen Schild sieht man einen cartoonhaft gezeichneten Mann, der bedenklich nah vor einem heranfahrenden Zug über die Gleise rennt. Daneben steht „Das geht sich locker aus …“. Der Hagere bemerkt, dass ich versuche das Schild zu enträtseln und sagt: „Das heißt so viel wie ‚Das klappt bestimmt‘. Es ist ironisch gemeint.“
„Verstehe“, sage ich und ergänze „auf Hochdeutsch würde ’sich ausgehen‘ was anderes bedeuten, nämlich …“
Er unterbricht mich: „Warum haben Deutsche immer so ein Bedürfnis, einem zu erklären, was Dinge auf Hochdeutsch heißen?“
Ah – da ist sie, die alpine Grobheit Deutschen gegenüber. Der Reiseführer hat mich vorgewarnt.
„Naja, aber ich kenne ja auch keine Österreicher, also außer Euch, jetzt“, wende ich ein.

Die Regenmacherin steigt aus dem Zug. Auf dem Weg zum Auto gehen wir an einer älteren Dame in Hippie-Klamotten vorbei, die an einem der anderen Bahnsteige wartet. Die Veranstalterin grüßt sie, die Dame grüßt zurück.
„Wollen Sie auch zum Festival?“, frage ich sie neugierig.
Alle schauen mich irritiert an. Habe ich was falsches gesagt?
„Nein“, sagt die Veranstalterin, „ich habe über’s Wochenende ein Zimmer bei ihr gemietet.“
Ok. Warum war das jetzt ein Problem, dass ich das gefragt hab?

Im Auto, auf dem Weg zurück zum See sitze ich neben der Regenmacherin. Sie trägt die Bergsteigerschuhe, die die Wander-Touris hier in der Gegend immer tragen, eine kurze, reißfest wirkende Hose und einen überhaupt nicht dazu passenden Pulli aus dünner Wolle. Halb möchte ich jetzt ein Interview führen, weil es vielleicht die letzte Gelegenheit ist, mit ihr ungestört reden zu können und halb traue ich mich nicht, weil die Stimmung gerade so komisch ist.
„Ich bin …“, sage ich schließlich.
„Ich weiß, wer Du bist“, sagt die Regenmacherin sachlich, nicht unfreundlich.

Als wir an dem Festivalgelände ankommen, zieht sich die Regenmacherin aus und gibt ihre Kleidung der Veranstalterin, die sie sorgfältig zusammenlegt. Jemand gibt der Veranstalterin eine Schale mit blauem Bodypaint. Die Festival-People stellen sich locker in zwei Reihen auf, die von hier zu dem Zelt reichen. Die Veranstalterin läuft dazwischen entlang, sie trägt die Schale vor sich und bietet den Leuten das Bodypaint an. Die Regenmacherin läuft mit ein bisschen Abstand hinterher. Sie geht so wie Tänzer auf der Bühne gehen, wenn sie gerade schauspielern, dass sie gehen: expressiv, bedacht die Ferse zuerst aufsetzend und über die Zehen abrollend; dass fällt umso mehr auf, als die Veranstalterin vor ihr ganz normal läuft. Der Hagere legt seine Hand auf meinen Rücken und gibt mir einen kleinen Schups und wir gehen nebeneinander hinter ihr her. Die Leute tauchen ihre Fingerspitzen in die Schale und berühren die Regenmacherin. Sie nehmen immer nur ganz wenig Bodypaint, aber es sind genug Menschen da, dass sie bald fast vollständig mit Farbe bedeckt ist.

Als die Regenmacherin fast am Zelt ist, tritt eine zierliche Greisin zwischen sie und die Veranstalterin. Die Veranstalterin bleibt stehen und hält ihr die Schale hin. Die Greisin taucht zwei Finger ein und streicht sich die Farbe über die Lippen. Dann geht sie zur Regenmacherin und küsst sie auf den Mund. Die Greisin ist so klein, dass sie sich auf die Zehen stellen muss und dass obwohl sich die Regenmacherin schon zu ihr runterbeugt.

Das ganze läuft läuft schnell und geübt ab. Die Veranstalterin bleibt am Zelt stehen. Alle wissen, wo sie sein und was sie tun sollen, nur ich bin ein bisschen überfordert. Ich greife mir an mein Nippel-Piercing. Es ist nicht da. „Verdammt nochmal …“, sage ich (unabsichtlich laut) und werde fragend angeschaut.
„Ich habe mein Nippelpiercing verloren.“
„Nimm meins“, sagt die Regenmacherin.
Aus irgendeinem Grund sind ihre Augenbrauen in einem dunkleren blau gefärbt als der Rest ihres Gesichts; vielleicht hat sie sich das selbst nachgezogen als ich hinter ihr herlief. Es gibt ihr, zusammen mit dem im halbdunkel geradezu leuchtenden Weiß ihrer Augen, einen durchdringenden Blick. Sie macht ihr Piercing auf, nimmt es raus und gibt es mir. Danach greift sie in die Schale und streicht sich über die, ein bisschen blutende, Stelle. Das Piercing ist handgeschmiedet und sieht aus wie ein Tropfen. Es verliert und fängt das Licht des Feuers.

Urheimat

Das Amt des Regenmachers wird nicht vererbt. Der Träger des Amtes wird von den Götter bestimmt. Die Götter geben den Menschen durch ein Zeichen zu verstehen, wer Regenmacher sein soll.
Der Hirte des Dorfes war eines Tages mit seinen Schafen auf einem Feld. Kinder folgten ihm. Die Tochter des Häuptlings, Reikja, war darunter. Sie stieg auf einen Hügel. Es begann zu regnen. Nur auf dem Hügel und nur auf sie. Der Hirte sah es und erzählte es im Dorfe. Es wurde als Zeichen anerkannt. Sobald der jetzige Regenmacher stirbt, sollte Reikja seinen Platz einnehmen. Das Dorf freute sich. Der Häuptling nicht. Der Regenmacher muss keine gewöhnliche Arbeit verrichten und er wird von allen bewundert. Aber er zahlt einen Preis dafür. Denn Menschen erarbeiten sich Regen nicht, wie sich die Ernte erarbeiten. Menschen ist der Regen nicht geschenkt, wie ihnen die Berge und der Himmel geschenkt sind. Menschen ist der Regen geliehen.

Die Jahre zogen vorüber. Reikja ging bei dem alten Regenmacher in die Lehre und lernte die Tänze zu tanzen, die Zaubersprüche zu sprechen, die Tieropfer zu bringen und die Gesänge zu singen. Schließlich starb der alte Regenmacher und sie wurde seine Nachfolgerin.
Eine Dürre kam. Die Felder brachten keine Früchte und die Kühe gingen ein. Reikja wurde vom Dorf beauftragt, die Götter um Regen zu bitten und sie führte den Auftrag aus. Nachdem sie die Rituale vollendet hat, wartete das Dorf mehrere Tage. Es fiel weiterhin kein Regen.
Das Regenmachen ist eine Bitte. Manchmal nehmen die Götter sie an und manchmal nicht.

Niemand wagt es, einen Regenmacher anzurühren. Aber als beim zweiten Versuch Reikjas erneut kein Regen fiel, bedrängten die Dorfbewohner den Häuptling. „Dies ist Dein Dorf“, sagten sie, „dies sind Deine Ähren, die auf den Feldern vertrocknen. Dies ist Deine Tochter.“ Der Häuptling versuchte, sie beruhigen: „Habt Geduld! Wenn heute kein Regen fällt, dann morgen. Regen kommt immer. Man muss nur warten. Dies war schon immer so.“

Nach ein paar Wochen sang die Regenmacherin zum dritten Mal die Gesänge, brachte die Opfer und führte die Tänze auf und zum dritten Mal fiel kein Regen. Der Häuptling erwartete, dass die Dorfbewohner ihn erneut wütend bedrängen. Doch niemand kam zu ihm. Sie schauten ihn nur an. Sie kannten die Tradition. Der Häuptling schaute auf den Boden. Er kannte sie auch.
Wenn ein Regenmacher dreimal scheitert, gibt es kein viertes Mal. Drei Male zu scheitern heißt, dass den Göttern die angebotene Gabe zu gering ist, das Flehen zu leise, die Bitte zu achtlos. Wenn ein Regenmacher dreimal scheitert, wird erwartet, dass er den Göttern sein Leben gibt.

Man stellte in der Dorfmitte ein kleines einfaches Zelt auf und gab Reikja ein großes Messer. Sie ging hinein. Alle schauen zu. Man hörte nichts. Dass sie die Tat vollbracht hat, und dass die Götter die Bitte dieses Mal angenommen haben, merkten die Dorfbewohner erst daran, dass es auf einmal anfing zu regnen. Es regnete aus einem Himmel, der wenige Augenblicke zuvor noch wolkenlos war. Der Regen war so stark, dass den Dorfbewohnern schien, als würden sie in einem Wasserfall stehen. Es regnete durch alle Dächer. Es regnete so sehr, dass man die Berge nicht mehr sah.
Die Bewohner des Dorfes brüllten und der Häuptling brüllte auch, aber sie brüllten vor Dankbarkeit und er brüllte vor Wut. Sein Herz verknotete sich. Die Götter haben ihren Teil des Bundes eingehalten. Aber warum erst jetzt? Warum musste seine Tochter dafür sterben? Ohnmächtig stand er im Regen. Was sind das für Götter, die unschuldiges Blut fordern? Es muss einen besseren Weg geben. Mit den Göttern oder ohne sie. Für die Götter oder gegen sie.

Couple Goals

Ich fahre abends mit dem Fahrrad an einem Feld vorbei. Es gibt dem Himmel gerade großzügig ein Zeichen, dass es Nacht werden soll. „Du könntest Dich, wenn Du möchtest, jetzt auf mich legen.“ Es ist mir ein bisschen peinlich, das mitzubekommen. Sorrysorrysorry – ich bin gleich weg – macht nur weiter.
Die beiden lassen sich nicht stören.

San Jupitero

Für das Magazin, für das ich schreibe, verfasse ich in der Regel kurze Alltagsgeschichten, aber manchmal schicken sie mich auch auf kleine Reisen, falls es jemand interessantes zu interviewen gibt. Sie fragten mich, ob ich einen polnischen Porno-Star interviewen und dazu zu ihrem Heimatort, nach Pila (gesprochen: Piuh-ah), fahren würde. Klar. Von Berlin aus sind das gerade mal 304 Kilometer. Ich entscheide mich dafür, mit dem Zug hinzufahren, was idiotisch ist, weil es fast vier Stunden dauert und auch umsteigen muss. Egal. Ich komme an einem Julimittag an und nehme ein Taxi zu der vorher ermailten Adresse.

Die Porno-Darstellerin benutzt einen Künstlernamen, der klingt als sei es eine Duftkerzen-Marke. Bürgerlich heißt sie Aska (gesprochen: Asch-ki-ah), zumindest waren so ihre Mails unterschrieben. Mein Magazin hat mich hierher geschickt, weil sie, angeblich, die beste Pornodarstellerin sei, nicht nur ihrer Generation, sondern vielleicht sogar ever. Leute zu interviewen, die so Überflieger sind, klingt spannend, kann aber auch nach hinten losgehen. Vor einigen Jahren traf ich mich mal mit einer Spitzen-Mathematikerin, einem Mathe-Genie, und das war insofern ein bisschen enttäuschend als solche Leute nur für ihre Leidenschaft leben, sich ansonsten für nichts interessieren und auch nicht so aufregende Leben führen. Die Mathefrau war nett und offen, aber aus der war wenig herauszukriegen (Und was machst Du sonst noch so? „Nichts.“ Was hättest Du gemacht, wenn Du nicht Mathematikerin geworden wärst? „Keine Ahnung.“) Ihr war mit sechs Jahren klar, dass es in ihrem Leben genau ein Thema geben wird und dass alles andere entweder zu diesem Thema hinführen wird oder zwischen ihr und diesem Thema stehen wird.

Aska wohnt in einem sehr hellen, großen Apartment, ganz oben in einem der hier überall stehenden Hochhäuser. Sie führt mich in das Wohnzimmer. Auf einer der Couches sitzt eine Frau, ein bisschen älter als Aska, und blättert in einer Modezeitschrift. Sie erwidert meinen Gruß nicht und nimmt von mir auch sonst keine Notiz. Sofort fühle ich mich unwohl, was mich ärgert, ich habe mir schon mehrfach vorgenommen, mich nicht so schnell verunsichern lassen.
Wir beginnen mit dem Interview. Meine Recherche hat im Vorhinein ergeben, dass Aska tatsächlich der shooting star in ihrer Szene ist. In dem Interview erinnert sie mich ein bisschen an die Mathematikerin, aber vielleicht ist das einfach die Art wie sehr erfolgreiche Menschen halt so drauf sind. Im Unterschied zu der Mathematikerin hat Aska auch das Drum-Herum Ihres Themas ganz gut drauf, sie kennt die Regeln des Spiels. Das Porno-Business funktioniert anscheinend nach einem Doppelprinzip von „Konsument*innen geben, was sie bereits kennen“ und „sie überraschen“. Man kann, erklärt sie, relativ einfach auswerten, welche Videos gut laufen und welche nicht, herausfinden, was an die guten gut macht („Dieses Video wird ganz häufig angeklickt, aber Leute wechseln nach spätestens einer Minute zu einem anderen – das heißt, dass in der Überschrift oder in der Vorschau etwas ist, was eine positive Erwartung weckt, die aber dann in dem Video selbst nicht erfüllt wird“) und welche zeitliche Entwicklungen bestimmte Motive durchmachen („Das tauchte in einem Kinofilm auf, daraufhin suchten die Leute nach einer Pornoversion davon – hier siehst Du wie die Suchanfragen starten – dann haben mehrere Studio so was gedreht – und etwa ab hier ist das Bedürfnis wieder gestillt, das Interesse nimmt wieder ab“). Außerdem hat sie eine Reihe an Techniken, die ihr Schauspiel besonders machen („So nach zwei Dritteln mache ich eine Art nicht-aspiriertes ‚Ach‘.“ Erklär, bitte. „Wenn man ‚Ach‘ sagt, dann atmet man dabei aus. Mach das mal und halte Deine Hand vor den Mund. Merkst Du den Atem? Und jetzt sag ‚Ach‘ und atme dabei nicht aus, sondern ein. Man macht dabei automatisch einen Gesichtsausdruck, der als sehr erotisch wahrgenommen wird“). Außerdem sei es wichtig zu monitoren, welcher Regisseur gerade an welchem Projekt dran ist, wen man für gutes Licht-Design dazubuchen könnte und zu welchen Castings man nicht gehen sollte.
Ich frage sie, was die beste Entscheidung in ihrer bisherigen Karriere war. „Meine Agentin einzustellen.“ Die Frau auf der Couch hebt, ohne die Modezeitschrift abzusetzen, die Hand und winkt mir zu. Ok, sie hat also doch wahrgenommen, dass ich da bin.
Aska redet schnell, ich habe Mühe alles mitzuschreiben.
„Ich habe den Eindruck“, sagt sie, „das Du alles, was ich Dir erzähle ganz furchtbar missverstehst.“
„Wenn Du möchtest, kann ich Dir den Text zum Gegenlesen schicken, bevor er zur Endredaktion geht.“
„Nee, lass mal, so wichtig ist mir das auch nicht. No offence.“
„None taken“, lüge ich und schaue mich im Raum um. Vielleicht finde ich noch ein persönliches Detail, nach dem ich sie fragen könnte. Mein Blick fällt auf ein gerahmtes Foto, dass an der Wand hängt. Es zeigt ein kleines Mädchen in einem Erstkommunion-Kleid.
„Bist Du das?“, frage ich.
„Ja.“
Das Kleid ist schlicht-weiß, aber sie trägt an der rechten Hand einen auffällig geschmückten Handschuh. Schon damals hatte sie den wachen-wachsamen Blick, mit dem sie mich jetzt von der Seite anschaut.
„Was ist mit dem Handschuh?“
„Das ist ein San Jupitero-Handschuh.“
„Ah, ok.“
„Weißt Du, was das ist?“
„Nein.“
„Ich kann es nicht so gut erklären, aber in der Kirche hier hängt eine Erklärung. Willst Du sie sehen?“
„Ja, gerne.“ Ich glaube, wir sind hier eh durch, denn mehr kann ich nicht auf einmal aufnehmen. Wir stehen auf und gehen zur Tür. Die Agentin ruft ihr etwas auf polnisch zu. Aska antwortet ihr, ich deute es anhand der Melodie als ein „Ich bin gleich wieder da.“

Pila fällt als Stadt nicht unbedingt durch besondere Schönheit auf, aber die Kirche ist ganz cool. 1930 gebaut und im Bauhaus-Stil gehalten, das muss damals der heißeste Scheiß gewesen sein. Man merkt, wie sich der Architekt Mühe gegeben hat, mal was neues auszuprobieren, aber es trotzdem als Kirche erkennbar zu machen. Als wir dort ankommen, stehen da ein paar Leute, die aufgrund der schicken Kleidung vage als Hochzeitsgesellschaft zu erkennen sind. Wir gehen an ihnen vorbei und rein. Drinnen hören wir einen Chor singen. Sie fangen immer wieder von vorne ein, vielleicht proben sie noch schnell ein besonders schwieriges Stück. In dem Vorderbereich der Kirche hängen Texttafeln, die das Leben von Heiligen erzählen. Aska führt mich zu einer und ich fange an zu lesen:

„SAN JUPITERO: EIN JUNGE WAR SEHR DICK. Die Kinder riefen ihm „Du bist so fett!“ hinterher und „Du hast Deine eigene Schwerkraft!“ und nannten ihn schließlich den fetten Jupiter oder auch, einfach nur Jupiter (Jupitero). Seine Eltern starben früh. Als er erwachsen wurde, trat er einem Kloster bei. Es war Brauch, dass jeder Mönch in dem Kloster nach seiner Funktion angesprochen wurde: Bruder Schreiber, Bruder Sanitäter, Bruder Metzger et cetera. Da Spitznamen für gewöhnlich bei einem bleiben, ob man es will oder nicht, nannte man den nunmehr erwachsenen Jungen aber Bruder Jupiter, Fra Jupitero.

An einem Herbsttag waren seine Mitbrüder auf einem Ausflug. Jupitero blieb zurück, saß im Garten und passte auf das Kloster auf. Ein Mann kam zu ihm und setzte sich neben ihn.
„Fra …“
„Jupitero.“
„Fra Jupitero“, sagte der Mann, „ich brauche Ihren Rat. Ich bin die ganze Zeit so traurig. Außerdem schmeckt mir nichts mehr. Ich kann schlecht aufstehen und alles strengt mich an. Und ich kann nachts nicht schlafen.“
„Hmmh“, sagte Jupitero und dachte nach.
„Ja“, sagte der Mann.
„Gott mit Ihnen“, sagt Jupitero und legte ihm die linke Hand auf die Schulter.
Sie saßen noch eine Weile beisammen. Dann ging der Mann.

Ein paar Tage später kam beim Essen der Abt auf Jupitero zu.
„Du hast einen Brief bekommen“, sagte er und gab ihm das Schreiben.
„Lieber Fra Jupitero,
es geht mir besser. Ich bin wieder fröhlicher. Das lag an Ihrer Berührung. Ich danke Ihnen.
Herzliche Grüße“

Im folgenden Monat brachte Jupitero Früchte vom Feld zum Kloster als ihn jemand abfing und ansprach.
„Es hieß, sie hätten Luigi geheilt. Könnten Sie auch mir helfen? Ich bin immer so wütend. Neulich habe ich meinen Hund getreten. So bin ich doch nicht. Ich weiß nur nicht wohin mit meiner Wut.“

Im Dorf sprach sich bald herum, dass in dem Kloster ein Mönch wohnt, der durch Hand auflegen heilen kann und es kamen immer mehr Leute zu ihm. Bald auch aus den umliegenden Dörfern und schließlich aus dem ganzen Circondario. Die Leute begannen ihn den Heiligen Jupiter zu nennen, Sancto Jupitero – kurz: San Jupitero.

Als der Abt davon mitbekam, rief er ihn zu sich und sagte: „Das hört natürlich sofort auf, Fra Jupitero. Haben wir uns verstanden?“
Jupitero wies daraufhin Menschen ab, die tagsüber zu ihm kamen. Sie begannen daher nachts zu kommen, wenn die anderen Mönche und der Abt schliefen. Jupitero stand vor seiner Zelle und heilte jeden, die oder der kam. Die Schlange ging bald den ganzen Flur entlang, wenig später schon nach draußen und schließlich bis in den Kreuzgang, wo die Zelle des Abtes lag. Der Abt nahm das Ganze ein paar Tage hin, in der vergeblichen Hoffnung, dass der Spuk schnell von alleine weggehen würde. Eines Nachts hält er es nicht mehr aus, steht auf und geht zu Jupitero. Er ging an der Schlange vorbei, an ganz verschiedenen Menschen: Alten und Jungen, einzelnen und Gruppen, ein ärmlich aussehender Student wartete da und davor ein Geschäftsmann, der eine ältere Dame, vielleicht seine Mutter, stützte.
Die Wartenden sahen den Abt, buhten ihn aus und hielten ihn an seiner Kutte fest, aber der Abt riss sich frei und trat neben Jupitero.
„Könntest Du mir bitte mal sagen, was …“, setzte der Abt, da warf jemand aus der Menge ein Gesangsbuch nach ihm. Es traf den Abt mit dem Buchrücken an der Stirn. Ein Streifen Blut rann unter und tropfte ihm auf die Brille. Jupitero streckte die Hand aus, um die Wunde zu heilen. Doch bevor er den Abt berühren konnte, hielt der Geschäftsmann seine Hand fest. „Ich gebe Dir 100 Lire wenn Du ihn nicht heilst, San Jupitero.“
„Ich nehme kein Geld.“
„Ja. Klar. Ich ’spende Dir 100 Lire für Kerzen und Weihrauch‘. Nur heile ihn nicht.“
„Was mischen Sie sich eigentlich ein?“, fragte der Abt.
„Was ich mich hier einmische?“, der Geschäftsmann ließ Jupiteros Hand los und trat sehr nah an den Abt heran. „Ich kann es Ihnen gerne sagen. Ich bin auf ein Jungen-Internat gegangen. Ich kenne Leid, das von Typen wie Ihnen ausgeht und die Energie mit der Sie jedes kleine Glück verhindern.“
Der Abt richtete sich auf: „Sind Sie bescheuert?“ Er wandte sich an die Menge: „Seid Ihr alle bescheuert? Was glaubt Ihr Idioten denn, was passiert, wenn der Vatikan hiervon erfährt? Habt Ihr vergessen, dass es gar nicht so lange her ist, dass man schon mal Feuerholz sammeln ließ, wenn man Leute wie ihn traf? Und selbst wenn er nur aus dem Kloster geworfen wird – er ist ein Waise. Wo soll er dann hingehen? Was Ihr hier macht, ist egoistisch. Es ist für Fra Jupitero das Beste, wenn ihr ihn alle in Ruhe lasst und das ganz hier vergesst.“
Wieder warf ihm jemand ein Gesangsbuch an den Kopf.
„Das war richtig nah an meinem Auge!“, brüllte der Abt und lief weg.

Eine Woche später, nachts, während er wieder die Hand auflegte und Menschen heilte, fiel Jupitero auf, dass ganz am Ende der Schlange eine kleine Familie, Vater, Mutter, Kind, stand. Das Kind trug einen Kartoffelsack über dem Kopf, mit kleinen Öffnungen für die Augen. Es hielt die Hand seiner Mutter. Sie ließen immer wieder Leute vor, so lange bis sie mit dem Mönch allein waren. Er ging zu ihnen.

„Wir haben schon so viel probiert“, begann der Vater, „es heißt, dass Sie Wunder tun, San Jupitero. Vielleicht können sie uns helfen.“ Er nahm dem Kind den Sack vom Kopf. Dessen Gesichtsknochen waren schief zusammengewachsen und außerdem war er über und über mit eitrigem Ausschlag übersät. Jupitero stieß unwillkürlich einen Schrei aus und erschreckte sich darüber. Er drehte sich um. Er nahm einen tiefen Atemzug, drehte sich wieder zurück, sah das Kind an und schrie erneut. Er hielt sich die Hand vor den Mund und schrie in die Hand hinein. Dann drehte er sich weg um und bibberte. Der Vater setzte dem Kind wieder den Kartoffelsack auf den Kopf. Das Kind ließ seine Mutter los und ging einen Schritt auf Jupitero zu, der das Gesicht in den Händen vergraben hat. „San Jupitero“, sagte es, „es ist in Ordnung.“ Das Kind legte ihm die Hand auf den Rücken: „So ist es im Leben. Wir können nicht alles schaffen. Weine nicht. Danke, dass Du es versucht hast.“
Der Vater des Kindes überlegte, was man in solchen Situationen zu Kirchenmännern sagt:
„Friede auf Erden.“
Jupitero antwortete nicht.
„Und den Menschen ein Wohlgefallen“, antwortete die Mutter des Jungen für Jupitero und die Familie ging. Als sie an der Pforte waren, hörten sie ihn vor sich hin sprechen: „Es tut mir leid. Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid. Es tut mir leid. Ich bin schwach. Es tut mir leid.“

Eines Abends fiel dem Abt auf, dass es im Kloster beunruhigend ruhig ist. Er erwartete, dass im Kreuzgang wieder geheilt wird und ging dort hin. Da war nichts. Auch in der Bibliothek und im Gemeinschaftsraum war niemand. Schließlich ging er zur Küche. Er öffnete die Tür. Alle Mönche des Klosters waren dort versammelt. Jupitero saß auf einem Stuhl, die linke Hand auf dem Tisch. Neben ihm standen zwei Mönche. Bruder Metzger rieb das große Schneidebrett mit Alkohol ein.
„Was …?“, fragte der Abt.
Nachdem er mit dem Schneidebrett durch war, holte Bruder Metzger ein Beil heraus. Er übergoss es mit Alkohol und rieb es ab. Er machte das länger als er müsste. In solchen Situationen sagt normalerweise immer jemand etwas wie „Ist gut jetzt!“ oder „Das reicht – wir machen das doch nicht.“ Aber es passierte nicht. Alle schauen ihm einfach zu und warteten, bis er fertig ist. Also dann. Er legte Jupiteros Hand zärtlich auf das Schneidebrett. Die beiden anderen Mönche hielten Jupitero fest. Bruder Metzger hebte das Beil und hieb Jupitero in den Unterarm. Einmal reichte nicht. Nochmal, und noch einmal, dann war die Hand ab. Bruder Metzger machte Bruder Sanitäter Platz, der verband den Armstumpf. Bruder Schreiber faltete ein neues, großes, leeres Pergament auf, wickelte die Hand darin ein und gab das Paket dem Abt.
„Aber …“, sagte der Abt, „… ich weiß doch gar nicht, wo die wohnen?! Und selbst wenn ich sie finde, wird es vielleicht nicht funktionieren, wenn ich es mache? Wo soll ich ihn überhaupt damit berühren?“
Dem Abt fiel auf, dass sich das Paket in seiner Hand überhaupt nicht wie ein toter Gegenstand anfühlte, eher so wie wenn man etwas lebendiges hält.

Das schief zusammengewachsene Gesicht blieb schief zusammengewachsen. Aber der Ausschlag ging weg. Nicht sofort, aber nach einer Woche war er vollständig abgeheilt. Das Kind sah nun aus wie jemand nach einem Unfall. Zwar nicht ansehnlich, aber nicht mehr zum Erschrecken und Weglaufen.

Jupitero bekam eine Prothese und die Familie des Kindes schenkte ihm dafür einen mit Schmuck bestickten Handschuh. Jupitero ließ den Handschuh verkaufen und das Geld spenden. Daraus entstand eine Tradition. NOCH HEUTE WIRD BEI ERSTKOMMUNIONEN EIN SOLCHER HANDSCHUH GETRAGEN.“

Damit endet die Texttafel. Darunter ist ein Foto des Heiligen. Zwei Dinge fallen mir auf:
1. Er ist nicht fett. Vielleicht ein bisschen rundlich, aber auf keinen Fall, jedenfalls nicht nach den Maßstäben der Gegenwart, fett.
2. Es ist ein Farbfoto. Beim Lesen dachte ich dauernd, dass das alles im Mittelalter war, aber es ist gar nicht so lange her. Auf dem Foto sieht man, dass er eine Handprothese trägt. Er sieht ganz zufrieden aus.

„Hätten nicht alle mehr davon gehabt, wenn er die Hand behalten und dafür mehr Menschen geholfen hätte? Jetzt hat er ein bestimmtes Kind geheilt aber dafür seine Fähigkeit für immer aufgegeben. Das ist doch dumm“, sage ich.
Aska zuckt mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Vielleicht.“

Und jetzt lohnt es sich doch, dass ich den Zug nach Pila genommen und mir kein Auto geliehen habe, denn ich nutze die Zugfahrt zurück, um zu ergoogeln, was sich noch über ihn herausfinden lässt. Es ist nicht so richtig viel. Der Vatikan hat sich zu Jupiteros Lebzeiten nicht dazu geäußert. In Polen wurde er zu einer Art Lieblingsheiligen. Es wurde zu einem Brauch, dass reiche Menschen aufwendige Handschuhe machen lassen, die verkauft werden. Das Geld wird dann für wohltätige Zwecke, etwa für Krankenhäuser und Waisenheime benutzt. Ein polnisches Glamour-Girl, das in den 90ern Teil der US-Musikszene wurde, brachte den Brauch für kurze Zeit dort ein und so trug auch ein Pop-King manchmal auf der Bühne einen Jupitero-Handschuh.

Dauernd werde ich vom dem Schaffner angemeckert, weil ich den Mund-Nase-Schutz nicht trage. Schließlich bleibt er bei mir stehen und sagt: „Zum letzten Mal: Setzen Sie Ihre Maske auf!“ Ja, ja, ich weiß die Maske. Ich nehme sie auch nicht absichtlich ab, sondern friemel sie mir unbewusst runter, während ich im Internet rumklicke.

Aufwachen

Ich sitze an einem Autobahn-McDonalds, im Norden. Ich sitze draußen, um beim Essen rauchen zu können. Nicht vergessen: Anschließend noch tanken. Autobahn-Fastfood-Restaurants sind mein Happy Place, Essen macht glücklich und hier will niemand was von mir. Nachdem ich das kostenlos herumliegende Kino-Magazin komplett ausgelesen habe, öffne ich die „All Worlds Spirituality“-App auf dem Handy. Dort steht so der übliche Kram, aber ganz oben läuft auf rotem Hintergrund ein Laufband:

„AUFRUF Drei kriminelle Exilanten sind auf der Flucht. Sie sind vermutlich auf einer der Zwischenwelten, vielleicht auf der Erde. Auf keinen Fall ansprechen. Falls Sie Informationen haben, die zur Ergreifung führen, wenden Sie bitte dringend an übliche Nummer. Belohnung nach eigenem Wunsch.“

Mir fällt auf, dass ein paar Tische weiter ein Dämon, eine Dämonin und ein Engel sitzen. Das sieht man in Raststätten-McDonalds sonst eher selten. Der Dämon und die Dämonin sehen sich ein bisschen ähnlich, vielleicht sind es Geschwister. Die Dämonin und der Engel halten Händchen.
Ich rufe die Nummer von dem Bannertext an. Vielleicht wird man mir ja im Gegenzug Reichtum anbieten, das wäre doch ganz schön. Jemand nimmt ab.
„Ich habe Information zu den Exilanten, nach denen Sie suchen“, sage ich.
An der anderen Seite Schweigen. Dann: „Du bist ein Mensch, nicht wahr?“
„Nun … ja. Aber ich habe trotzdem …“
„Woher hast Du diese Nummer?“
„Von den …“
Er lässt mich nicht ausreden: „Immer wieder ruft Ihr hier an und wollt Euch mit irgendwas wichtig machen. Bitte lasst das bleiben. Ihr wisst überhaupt nichts. Ihr habt überhaupt keine Ahnung, in was Ihr Euch da einmischen würdet.“
Ich fühle mich gekränkt. „Aber … vielleicht weiß ich ja wirklich, wo die Exilanten gerade sind.“
„Mmmh-hmmmh, ganz sicher. Ich werde jetzt auflegen“, sagt er und tut es.

Wenn ich in der Raucherecke am Bahnhof stehe, bin ich immer derjenige, auf den Leute zukommen und nach Kippen fragen. Es muss irgendwas mit meinem Gesicht sein. Und als ich sehe, dass die Gruppe am Nebentisch aufsteht, weiß ich schon, dass die gleich auf mich zukommen werden.

Als sie näher kommen, bemerke ich, dass die beiden Dämonen Löcher in der Kleidung haben, an den Stellen, wo sonst Rangabzeichen sind.
„Du wirst uns fahren“, sagt die Dämonin zu mir und macht die Hypnose-Bewegung mit der Hand.
„Ich nehme so viele Endorphin-Blocker, ich bin überhaupt nicht hypnotisierbar.“
Das verunsichert die drei ein bisschen. Verwirrt schauen sie mich an und überlegen anscheinend, wie sie mich einordnen sollen.
Schließlich fragt die Dämonin: „Bist Du einer von den Menschen, die damals für die Eisriesen gearbeitet haben?“ Exakt.
Daher weiß ich um solche Sachen. In die Eisriesen-Geschichte bin ich indes so reingerutscht und dann war es halt irgendwann vorbei. Damals dachte ich, dass bestimmt bald die nächste coole Sache kommen würde, es kam aber nichts. Rückblickend denke ich, es wäre sogar besser, wenn ich die Eisriesen nie getroffen hätte, weil ich dann gar nicht um diesen Teil der Welt wüsste und es mir jetzt nicht fehlen würde. Naja.
„Ich fahre nach Kassel“, sage ich, „wohin wollt ihr?

Ich bringe das Tablett weg. Wir gehen zu meinem Auto. Sie steigen ein, der Engel und der Dämon hinten, die Dämonin neben mir. Ich tippe die Adresse, die sie mir genannt haben – ein Parkplatz, irgendwo im Harz – in das Navi ein und wir fahren los.

„Wenn das hier schief geht, gehe ich zurück, setze mich an meinen Schreibtisch und schieße mir in den Kopf. Meine Hände sind schon ganz kalt“, sagt der Dämon sachlich.
„Ach Du, Drama-Queen“, lacht seine Schwester und schlägt ihm fröhlich auf die Stirn. Der Engel lehnt sich vor und sagt zu ihr: „Wenn das in die Grütze geht, dann ist das halt so. Es wäre mir egal. Ich hab Dich einfach so lieb. Wenn das die letzten Augenblicke sind, dann will ich sie mit Dir verbringen.“
„Das sagt er nur, weil Du so große Titten hast“, rutscht mir raus. Warum sage ich immer so etwas?
Der Engel greift nach der Hand der Dämonin: „Du weißt, dass ich Dich auch lieben würde, wenn …“
Sie dreht sich zu ihm und schmunzelt: „Ja, natürlich weiß ich das.“ Dann gibt er ihr seine andere Hand, sie dreht sich wieder nach vorne und legt seine Arme um sich, so wie man sich einen Samtschal umlegen würde.

Bei Hannover muss ich tanken, denn selbstverständlich habe ich es vorhin vergessen. Ich stehe in der Schlange zur Kasse und sehe, dass ich siebzehn verpasste Anrufe auf meinem Handy habe. Ich rufe meine Mailbox ab: „Mein Kollege war vorhin ein bisschen voreilig“, höre ich eine unheimlich zugewandte und wertschätzend klinge Stimme sagen, „unserer Akte zufolge sehnen Sie sich nach Reichtum. Das ließe sich problemlos einrichten. Aber wir wissen, dass Sie auch gerne nicht mehr rauchen würden, doch sich diesen Wunsch nicht eingestehen können. Wir könnten Sie zu einem Nichtraucher machen. Zusätzlich. Sie müssen nichts tun, außer uns zu sagen, was Sie über die Exilanten wissen. Bitte denken Sie daran, die Exilanten nicht anzusprechen und zu ignorieren, was sie sagen, sollten sie Sie ansprechen. Wir können Sie telepathisch nicht erreichen. Könnten Sie sich vorstellen, für ein paar Stunden keine Endorphin-Blocker zu nehmen – nur solange bis wir eine Verbindung aufgebaut haben? Dann könnten wir Ihr Gedächtnis direkt auslesen – das wäre für uns einfacher und für Sie bequemer.“
Ich bin gleich mit Bezahlen dran, daher lege ich auf und schalte das Handy aus.

„Was genau habt ihr gemacht, dass die so wütend auf Euch sie sind?“, frage ich als ich wieder im Auto sitze, „denn dass Ihr beiden vögelt war doch bestimmt nicht der einzige Grund?“
Sie sagen nichts.
Schließlich fragt mich die Dämonin: „Hast Du die gerade angerufen?“
„Nein! Neinneinnein. Sie haben versucht mich anzurufen, ich habe nur die Mailbox abgehört.“

Wir kommen an dem Parkplatz an, den sie mir genannt haben. Dort steht, nicht ans Auto gelehnt, sondern davor stehend, die Hände auf die Hüften gestützt und uns böse anfunkelnd, eine kurzhaarige Hexe.
Sie wartet bis wir ausgestiegen sind und sagt dann: „Oh, ja – ‚lass uns doch zur Hexe fahren!‘. Tolle Idee, wirklich ganz toll. Was glaubt ihr Schwachköpfe denn, wo sie als allererstes nach Euch suchen werden?“
Ich finde es irgendwie ungerecht, dass die Hexe so gemein zu ihnen ist. Sie scheint mich jetzt erst zu bemerken. „Und diesen Idioten hier habt Ihr noch nicht mal richtig hypnotisiert!“ Der Dämon winkt ab und fragt sie:
„Wann ist denn der nächste Abflug?“ Dabei schaut er in Richtung des Berges, in dessen Schatten dieser Ort hier liegt.
„Aber auf keinen Fall werde ich Euch dahin mitnehmen und damit nicht nur mich, sondern noch meine Schwestern gefährden. Überlegt Euch was anderes.“

Sie beschließen, erstmal zu der Hexe nach Hause zu fahren. Der Engel küsst mich zum Abschied auf die Lippen. Ich weiß, dass Engel das untereinander so machen. Vielleicht bin ich der erste Mensch, den er kennengelernt hat und er weiß nicht, wie er sich mir gegenüber sonst verhalten soll. Die Dämonin, vielleicht weil sie es ihm nachmacht, vielleicht einfach so, küsst mich ebenfalls.

Danach ist das Auto irgendwie leer. Ich fahre alleine zurück zur Autobahn, an diesen halb kitschigen, halb niedlichen winzigen Harz-Städten vorbei. Doch jetzt nicht, Mann, ey, jetzt nicht weinen, komm schon, was bist Du denn gerade so emotional? Ich krame im Handschuhfach nach der Schachtel mit den Endorphin-Blockern und versuche gleichzeitig das Auto auf der Straße zu halten.

Herbst

Ich stehe spätabends mit einer Vampirin im Garten ihres Schlosses, wir rauchen. Vor einer Weile hat sie den größten Teil des Gebäudes verkauft, jetzt ist da ein, recht teures aber beliebtes, Restaurant. Von oben hören wir Musik und Geselligkeitsgeräusche. Gedämpftes Licht scheint zu uns runter. Sie drückt ihre Kippe an ihrem Ballerina-Schuh aus – das hinterlässt sicher einen Fleck – und zündet sich eine neue an. Um den Hals trägt sie ein auffallend schönes Amulett. Ich würde es mir gerne anschauen, will ihr aber nicht so in den Ausschnitt starren. Sie bemerkt meinen Blick: „Sag doch: ‚Nimm es bitte ab und zeig es mir'“.
„Nimm es bitte ab und zeig es mir“, sage ich. Sie schmunzelt ein bisschen und tut es. Das Amulett ist grob, man kann die Stellen sehen, an denen es gelötet wurde, und trotzdem auf zärtliche Weise hübsch, wie eine Träne aus Eisen. Als ich es halte, wird mein Brustwarzenpiercing ganz warm. Das macht es manchmal, wenn es mich auf etwas hinweisen will. Es wurde zum Beispiel warm, als ich die Ausschreibung für meine jetzige Stelle sah. Das war gut, denn ich habe mich daraufhin beworben und den Job auch bekommen. Ich halte ihr Amulett ganz nah an mir und gebe es ihr erst, widerwillig, zurück als sie die zweite Kippe aufgeraucht hat.
„Woher hast Du es?“
Sie nennt den Namen eines Zwerges und einen Ort im Wendland, wo er seine Werkstatt hat. Dann gibt sie mir ihr Feuerzeug und ihre restlichen Zigaretten und wir gehen rein. Sie zieht den einen Schuh aus, setzt sich auf ihren Sarg, kickt mit dem schuhlosen Fuß den anderen runter, legt sich hin und auf einmal weicht jede Farbe aus ihr. Ich brauche eine Weile bis ich merke, was gerade passiert ist. Obwohl sie sich eben erst hingelegt hat, sieht sie aus als läge sie seit Jahrhunderten hier. Sogar eine Staubschicht bedeckt sie. War das ein Unfall? Wollte sie, dass das passiert? Ich gehe zu ihr rüber und berühre sie vorsichtig am Ärmel. Auch ihre Klamotten sind gealtert, das Amulett aber nicht. Ich könnte es mir jetzt einfach nehmen. Nein, lieber nicht, das wäre nicht fair.
Ich warte eine Weile, aber sie verwandelt sich nicht zurück.

Am Samstag drauf fahre ich ins Wendland. Ich mag so Ausflüge. Es ist mir eigentlich auch egal wohin, ich genieße es einfach, mit dem Auto übers Land zu fahren und einen Vorwand zu haben, mir an Tankstellen Süßzeug und Snacks zu holen. Schade nur, dass es die ganze Zeit regnet. Ich komme in dem Ort an. Er ist so klein, dass ich die Werkstatt auch ohne konkrete Adresse nach kurzem Rumfahren finde. Eine Glocke bimmelt, als ich eintrete. Ein Zwerg sieht von einer Werkbank zu mir rüber, steht aber nicht auf. Er ist offensichtlich ein Zwerg (klein, gedrungen, kurze Stummelfinger), aber kein typischer. Er hat kurze Haare, feine, dünne Kleidung und ihm leuchtet eine distanzierte Intelligenz aus den Augen. Ich hole ein bisschen Geld heraus und zeige es ihm, Zwerge wollen immer erst sehen, dass man Geld hat, bevor sie mit einem sprechen. Er winkt ab. Ein Zwerg, der nicht von Gold besessen ist? Noch etwas, das nicht zu Zwergen passt, zu meinem Bild von Zwergen. Die Vampirin war auch keine typische Vampirin. Vielleicht ziehen sich so Leute ja an. In der Werkstatt ist lauter Schmuck, der wie ihr Amulett aussieht. Mein Piercing wird aber nicht warm. Was war denn beim Rauchen am Schloss so anders, dass es da warm wurde? Ich will nichts kaufen, will ihm aber trotzdem etwas dalassen und sehe mich nach einer Kaffeekasse um. Es gibt keine. Ich lege ein paar Münzen auf den Tisch. Der Zwerg gibt mir zu verstehen, dass ich sie nicht hierlassen soll. Er ist dabei nicht streng oder mahnend. Eher so wie Leute, die selbst keinen Alkohol trinken, einem am Ende einer Party sagen, dass man das übrige Bier mit nach Hause nehmen kann.