Ich muss immer mindestens zwei Dinge auf einmal machen, sonst werde ich unruhig. Kein Joggen ohne Hörbücher oder Podcast. Bei den Podcasts höre ich ziemlich wahllos das, was mir der Shuffle so vorschlägt. Ich jogge ja eh nicht oft – eigentlich wirklich nur am Wochenende und auch dann nur wenn nichts Gutes oder auch nur Akzeptables im Fernsehen läuft. An einem Sonntagnachmittag im September ist das der Fall und ich jogge und schalte bekomme einen Podcast vorgeschlagen, der „Safe Space Kepler 6“ heißt. ok, wird angemacht.
„Willkommen. Dieser Podcast ist ein Safe Space für alle Belange von Kepler 6. Dank des Übersetzungs-Plugins können uns auch K6-Allies von anderswo zuhören. Gerade jetzt ist es wichtig, offen und sicher sprechen zu können. Vielen Dank für Eure Nachrichten. Sie erreichen uns von allen Seiten, besonders vom Himmel, besonders nachts.“
Ich laufe so meine Runde und höre zu, ganz nice, Leute rufen an und zwei Moderatorinnen reden mit ihnen. Verstehe nicht so ganz, worum es in den Gesprächen geht, aber das macht auch nichts. Zwischendurch spielen sie ein bisschen Musik, gut, aber auch etwas strange, die Töne sind irgendwie alle nicht dort, wo sie sein sollten und der Gesang ist in einer mir unbekannten Sprache.
Irgendwann fing ich mir das Grübeln vorm Schlafen ein, so wie man sich irgendwann Lippenherpes einfing und dann nie mehr loswurde. Ich komme nicht gegen das Grübeln an, es passiert ganz automatisch: Ich lege mich ins Bett und sofort geht das Grübeln los. Über den Job, über die Zukunft, über alles. Vielleicht hängt es mit dem erwachsen sein zusammen und ist einer der vielen, vielen Gründe, warum es sich nicht gelohnt hat, erwachsen zu werden. Aber an diesem Tag liege ich nicht wach, weil ich mir wegen etwas Sorgen mache, sondern weil ich dauernd an den Podcast denken muss. Irgendwas daran blieb bei mir hängen. Aber was?
Montagabend, nach der Arbeit weiterhören? Nein, ich kann nicht einfach dasitzend und zuhören und erst recht kann ich mich unter der Woche nicht aufraffen, Joggen zu gehen. Am Wochenende regnet es, aber dann bügle ich halt, laufe anschließend durch die Wohnung und höre dabei die nächsten Folgen.
„Willkommen bei Safe Space Kepler 6. Es sieht momentan nicht verheißungsvoll aus, zumindest nicht sehr. Aber wir haben einander. Ihr uns und wir Euch. Wir werden sozusagen unter Schnee begraben und wir schaufeln ihn weg, Flocke für Flocke.“
Der Podcast begleitet mich auf ganz angenehme Weise durch meinen Alltag. Ich verlängere meine Joggingstrecke ein bisschen, damit ich, wenn ich loslaufe, genau zum Ende wieder zu Hause bin. Umso ärgerlicher als ich eines Nachmittags gerade mal auf der Hälfte des Weges bin, als ich folgendes höre:
„Das war es jetzt. Wir sehen noch die Neon-Reklame auf dem Gebäude gegenüber, aber die Buchstaben drehen und dehnen sich bis sie schließlich das Wort ENDE ergeben. Es ist nicht länger möglich weiterzumachen. Der Schlüssel liegt da, wo er immer liegt. Fühlt Euch umarmt.“
Und das ist anscheinend die letzte Folge. Ich warte eine Woche und dann noch eine, aber es kommt keine neue.
Irgendwann komme ich darauf, „Kepler 6“ nachzugoogeln. Manche Forschungseinrichtungen stellen ihren Bibliothekskatalog öffentlich online. In so einem finde ich ein bisschen was und einen Namen, der immer wieder als Autor von Aufsätzen und Büchern zu diesem Thema auftaucht – ein Privatdozent, der anscheinend eine Weile Professor an einem norddeutschen Teilchenbeschleuniger war. Seine damalige Emailadresse ist auf der Website noch online, ich maile ihm, versuchen kann man’s ja.
„Sehr geehrter Herr, vielen Dank für Ihre Nachricht“, antwortet er mir ein paar Tage später, „ja, ich kann ein bisschen was zu Kepler 6 sagen, auch wenn mich das Thema eigentlich schon seit Längerem nicht mehr beschäftigt.“ Er nennt eine Adresse, in einem Ort namens Dannenberg.
Ich nehme eine Regionalbahn. Dannenberg hat ein ganz schönes, wenn auch de facto stillgelegtes Bahnhofsgebäude. Ich spaziere zu der mir genannten Adresse; die Stadt selbst ist völlig belanglos. Ich komme an und klingle. Keine Antwort. Hättest Du mal nach einer Handynummer gefragt, dann könntest Du jetzt anrufen. Hättehättehätte. Gehe um das Haus herum, im Garten ist eine Art Pavillon, vermutlich so aus den frühen Achtzigern. Warum sieht auf dem Lande alles so deprimierend aus? Gehe an die Tür und klopfe.
Ein Mann in einem schlecht sitzenden Anzug macht mir auf. „Ja, bitte?“ Ich sage, dass wir gemailt haben und er dankenswerterweise anbot, mir etwas von Kepler 6 zu erklären. „Ach, richtig, richtig. Kommen Sie doch herein.“ Der Privatdozent erzählt etwa vier Minuten lang konkret über Kepler 6 („Die Bedingungen dort ähneln denen auf der Erde sehr. Soweit ich das einschätzen kann, entsprechen alle dortigen physikalischen Konstanten und Gesetze den unseren und auch die Evolution verlief weitestgehend gleich“), bevor er dann in astronomischen („Der Nachthimmel sieht dort ganz anders aus; das ist am Anfang wirklich irritierend, also dass man nach oben blickt und nicht ein einziges Sternenbild wiedererkennt“) und philosophischen Details festspricht („Wir schauen auf mögliche Welten und sind überrascht, dass dort Goethe dort nie geboren oder Fahrräder sehr viel früher erfunden wurden. Dabei wäre es doch viel interessanter herauszufinden, was das minimale Set an Regeln wäre, das in allen möglichen Welten wahr sein muss, also ob zum Beispiel in jeder Welt gelten muss, dass nicht zwei Gegenstände an exakt demselben Ort sein können“). Ich versuche ihn immer wieder zu Kepler 6 zurückzulenken und frage auch nach dem Podcast, aber er hat anscheinend seine Lieblingsthemen und lässt sich von meinen Fragen nicht aus dem Konzept bringen. Dann sagt er aber noch eine ganz interessante Sache: „Sie könnte da auch hinreisen, wenn Sie möchten. Es gibt ein Portal, in Kassel. Die Eingeborenen von Kepler 6 können es nicht benutzen. Ich weiß nicht, warum. Aber für uns ist es ganz praktisch. Warten Sie, ich suche es Ihnen mal heraus.“
Ich wäre gerne die Art Mensch, der dann abends nachrecherchiert, wo genau das ist und dann gleich beim nächsten freien Wochenende da hinfährt und so – bin ich aber einfach nicht. Vergeude ein paar Wochenenden; unter der Woche arbeite ich ja eh und meine Urlaubstage habe ich für dieses Jahr schon l ä n g s t verbraucht. Schaue hin und wieder ob es eine neue Folge des Podcasts gibt – nein gibt es nicht. Raffe mich schließlich auf, an einem Samstag mal nach Kassel zu fahren.
Die Adresse, die der Professor mir genannt hat, ist ein Raum in der Uni. Eigentlich logisch – warum habe ich mir das nicht denken können? Ich gehe zu einem Gebäude, vor dem eine Stele steht, die es als Physikum ausweist. Der Haupteingang ist auf der anderen Seite. Ich laufe an einer Raucherecke vorbei. Hier gibt es auch einen Tisch und Stühle, allerdings sind sie aus Beton gegossen. Ein Physiker steht dort und raucht. Ich frage ihn nach dem mir genannten Raum. Er nennt ihn mir. Ich frage außerdem, ob es hier einen Kaffeeautomaten gibt. Der Physiker bestätigt das – ein Euro pro Kaffee – steht im Erdgeschos. Und dann ergänzt er, dass er gerade ein bisschen neben der Spur ist, denn seine Freundin hat sich gerade nach zwölf Jahren von ihm getrennt. Er würde es gerne jemanden erzählen, der ihn kennt, aber seit Corona ist er der einzige hier. Alle sind im Homeoffice.
Mit einem meine Gesamtstimmung hebenden Kaffee trete ich in den Portalraum. An dem Portal sind viele Knöpfe und Schalter. Hmmmh. Ok, ein Knopf ist sichtlich abgenutzt und abgerubbelt. Ich drücke ihn, das Portal öffnet sich und ich trete hindurch.
Das Portal führt direkt ins freie, auf eine Art Einkaufsstraße. Das Licht ist hier irgendwie anders. Meine Augen brauchen eine Weile bis die sich daran gewöhnt haben. Minzgeruch. Es riecht hier penetrant nach Minze. Mein Sehsinn kommt mit dem komischen Licht ganz gut zurecht, doch meine Nase mit dem Geruch gar nicht. Ich spaziere ein bisschen umher. Anscheinend ist das tatsächlich einfach eine Einkaufsstraße. Ich bin ein bisschen enttäuscht, kann aber auch nicht sagen, was ich auf Kepler 6 stattdessen erwartet hätte. Es ist hier vollkommen leer, manche Eingänge sind offen. Zwischendurch hängen von außen an den Fassaden Plakate, auf denen ein Gegenstand mit vielen Kanten und drum-herum aufgeregt wirkende Schrift zu sehen sind. In den Geschäften gibt es Kleidung, Flüssigkeiten in fröhlich bunten Flaschen und Gegenstände bei denen mir nicht klar ist, zu was sie da sind.
Ich gehe die Straße eine Weile in die eine Richtung weiter. Da kommt so ein Wasserspiel und noch mehr Geschäfte. Hier ist außer mir auch niemand. Alles wirkt so als sei es von allen auf einmal – und alles liegen lassend – verlassen worden. Hmmmh. Ich gehe noch in die andere Richtung und wenn da auch nichts ist, Portal-isiere ich zurück zur Erde. Kein Wunder, dass der Professor so offen über das Portal gesprochen hat und der Physiker mir den Raum genannt hat, denn Kepler 6 ist wirklich ein bisschen unterbeeindruckend.
Ich spaziere bis zu einer großen Grünfläche, dahinter fällt die Stadt abschüssig einbisschen ab und gibt einen ganz schönen Ausblick auf Wälder frei, ganz schön. Die Bäume, wenn ich das aus der Ferne korrekt erkenne, sind eigentlich keine Bäume, sondern riesige einstämmige Pfefferminzsträucher; das würde auch den Geruch erklären. Es sieht ganz cool aus, wie sie sich so im Wind hin-und-her bewegen. Auf der Grünfläche steht eine Bronzestatue von einem Kind, das in der einen Hand etwas hält, das vielleicht eine Taschenlampe sein könnte und in der anderen Hand einen Schlüsselbund. Zwei Männer schneiden die Statue mit Lasern auseinander. Sie machen das in so fünf Zentimeter-Scheiben und gehen dabei sehr vorsichtig vor. Neugierig gehe ich auf sie zu. Sie stehen mit dem Rücken zu mir und sehen mich zunächst nicht. Sie sind deutlich kleiner als ich, tragen Atemmasken und sind haarlos. Ich frage mich ob für sie Behaartheit aussieht wie eine Krankheit – wie etwas womit man sich anstecken kann. Einem von beiden fällt ein Werkzeug hinunter, er dreht sich um und schaut mich an. Ganz ruhig, in fließenden, vorausschaubaren Bewegungen, gibt er dem anderen ein Zeichen. Der andere dreht sich auch um. Sie haben beide keine Augenbrauen. Wir stehen ein paar Sekunden so da. Soll ich was sagen? Abermals in ganz ruhigen Bewegungen klicken sie einen Knopf an ihren Handgelenken an und sind auf einmal weg. So als seien sie von einem Bungee-Seil plötzlich nach oben gezogen worden. Ich gehe zu der Statue. Sie lässt sich ganz leicht auseinander reißen. Sieht aus wie Metal, aber sie fühlt sich für mich an wie Papier. Warum haben die beiden hierfür Laser benutzt und es nicht einfach mit der Hand gemacht? In dem Schlüssel von der Statue ist etwas drin. Es sieht ein bisschen aus wie ein Würfel, aber viel komplizierter und hat ein bisschen so eine Oberfläche wie Hartplastik. Ich stecke es mir in die Jackentasche und mache mich auf den Weg zurück zum Portal.
Mittlerweile ist Oktober und das dauernde Matschwetter macht mich fertig. Antriebslos auf der Couch herumliegend scrolle ich die Podcast-App durch und entdecke, dass es eine neue Folge von „Safe Space Kepler 6“ gibt, yayy.
„Jemand von Euch hat den Code verstanden, das Versteck gefunden und das Pentachoron an sich genommen. Danke! Wer auch immer von Euch es hat, das Pentachoron scheint in Sicherheit zu sein. Es ist völlig von allen Scannern verschwunden. Wir haben alle Translatoren zerstören müssen. Alle bis auf den, welchen wir jetzt gerade benutzen . Bitte bringt Eure eigenen mit, wenn Ihr kommt. Und kommt, bitte. Der Safe Space hat sich von innen nach außen gedreht – jetzt er braucht Euch und muss von Euch beschützt werden. Wir treffen uns auf dem Eisplaneten.“
Dann sagt noch die andere Moderatorin: „Das hättest Du nicht sagen sollen, mit dem Planeten“ und dann bricht die Folge ab. Kommt noch Musik? Ich warte ein bisschen. Nein, nichts. Ok, schade.
Seitdem ich von Kepler 6 zurück bin, funktionieren alle Elektrogeräte in der Wohnung besser: Das Fernsehbild ist schärfer, der Computer geht an wenn ich nur an ihn denke – ich muss den Knopf gar nicht drücken – das Nintendo läuft auch ohne Batterien etc. Es liegt wohl nicht an mir, also nicht daran, dass mit mir etwas anders ist, denn wenn ich in zum Beispiel in Läden gehe, verhalten sich die Geräte dort ganz normal. Ah, nee, also auch dort ist es anders, wenn ich die Jacke trage, die ich auf Kepler 6 anhatte. Vielleicht hat sie sich dort mit irgendwelchem Paralleluniversum-Staub oder so vollgesogen, wer weiß.
Wenn ich im Schlafzimmer das Licht ausmache und mich ins Bett lege, geht es nach so zehn, 15 Minuten wieder an, allerdings in einem violetten, unregelmäßig pulsierenden Licht. Das ist ganz schön anzuschauen und man kann eigentlich gut dazu einschlafen. Eines Nachts pulisiert es allerdings in ganz kurzen Intervallen und wird dabei extrem hell. So kann ich nicht schlafen, grrr. Ich liege wach und beschließe, am nächsten Morgen nochmal nach Kassel zu fahren.
An der Raucherecke mit den Betonmöbel halte ich Ausschau nach dem Physiker, aber er ist hier nicht. Als ich auf der anderen Seite des Portals ankomme, werde ich sofort von einer Gruppe Uniformierter angehalten. Zwei halten mich fest und ein Einäugiger stellt sich von mir und hält mir seine leere Hand hin. Anstelle des anderen Auges hat er eine gut verheilte, aber leider sehr hässliche Narbe. Warum benutzt er kein Glasauge oder zumindest eine Augenklappe? Naja, jeder wie er will. Jemand brüllt mir vorwurfsvoll ins Gesicht und zeigt auf die leere Hand. Ich weiß nicht, was die von mir wollen – ich bin schließlich nur irgendsoein Typ – vielleicht verwechseln sie mich mit jemanden.
Der Einäugige hat so eine Art Handy dabei, spricht etwas da rein und hält es mir dann hin. Das Handy sagt:
„Dieser Translator wurde aus Sicherheitsgründen deaktiviert. Bitte geben Sie die Sicherheits-PIN ein, um ihn auf die Basiseinstellungen zurück zu setzen und neu zu starten.“
Ich zucke mit den Schultern. Der Einäugige tippt etwas in das Handy ein, spricht nochmal was rein und hört, was es ihm sagt, jetzt wieder in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Er hört sich das an und haut das Handy dann anschließend so lange gegen eine Wand bis es nur noch Schrott ist. Das muss sich sehr befriedigend anfühlen. Ich würde das auch gerne mit meinem eigenen Handy machen. Jetzteinerauchen. Ich greife in meine Hosentasche, dabei rutscht der Ärmel meines Pullis ein bisschen hoch. Die beiden Uniformierten schauen auf meinen Arm (meine Uhr? meine Armhaare? Ellebogen?) und lassen mich entsetzt sofort los. Warum? Wovon ekeln sie sich? Ist auch egal: ich nutze den Moment der Verwirrung und trete durch das Portal zurück in meine eigene Welt.
Und jetzt?, frage ich mich, als ich wieder zurückfahre. Ich habe das Gefühl, dringend etwas unternehmen zu müssen. Aber was? Vielleicht die Mailadresse des Physikers finden und ihm schreiben, dass alles gut wird. Ja, das wäre sinnvoll.
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Der Schnee ist so dicht, dass man nichts, gar nichts, sehen kann. Die Ortungsgeräte empfangen kein Leuchtturm-Signal. Zum Glück übernimmt der Autopilot und landet – ruckelig aber sicher. Die Eisfestung wirkt völlig verlassen. Ist es eine Falle? Oder soll das so – etwa damit niemand Ungebetenes hier eine Basis vermutet und herkommt? Nach dem Aussteigen fällt der Blick auf das Pentachoron-Symbol an einer der Stahltüren. Es wurde wohl gerade erst angebracht, denn die Farbe ist noch feucht. Die letzte Folge des Podcasts klang verzweifelt. Zu recht. Die Dinge laufen gerade ziemlich verkehrt. Vielleicht ändert sich das ja, wenn man erstmal drüben ist.