Leder-Menschen

Es ist fünf Uhr morgens an einem Samstag im April als ich davon aufwache, dass die Motorradschlampe mich anruft.
„Ich habe seit ein paar Wochen immer wieder den gleichen Traum“, sagt sie.
– „… was?“, frage ich.
„Ich habe seit so einem Monat immer wieder den gleichen Traum. Ich hatte ihn eben gerade wieder. Ich hab überlegt, mit wem ich darüber sprechen kann und mir bist nur Du eingefallen.“
– „… cool.“
„Ja.“
– „…“
„Immer wieder der gleiche Traum.“
– „Worum ging es?“
„Ich sehe eine Burg.“
– „Und dann?“
„Nichts. Das war’s“, sagt sie und klingt als würde sie sich im Bett aufrecht hinsetzen.
– „In dem Traum, den Du immer wieder hast, siehst Du eine Burg.“
„Ja.“
– „Ok.“
„… so eine Burg halt. In dem Traum sehe ich keine Details. Oder ich kann sie mir nach dem Aufwachen nicht merken. Aber ich habe diesen Traum schon eine ganze Weile.“
– „Ich verstehe.“
„Ja. Hmmh. Was bedeutet das?“
– „Ich weiß es nicht.“
„… Schade.“
– „…“
„…“
– „Aber gibt mir ein bisschen Zeit und arbeite mich da rein, in das Thema.“
„Wirklich?“
– „Ja, klar, ich mach das gerne.“
„Wie lange brauchst Du?“
Keine Ahnung. „Eine Woche?“
„Eine Woche klingt gut. Treffen bei mir, heute in einer Woche?“
– „Gut.“
„Ok, gut.“

Ich fange an, mich in das Thema „Träume“ hineinzulesen. Dazu gibt es wirklich viel. Es gibt anscheinend mehrere Gründe, warum man von einem Ort träumt. Entweder weil man da selbst war und es eine besondere, aber vielleicht verdrängte Bedeutung für einen hat. Oder weil man davon mal gehört hat und das Unterbewusstsein es sozusagen als Metapher für etwas anderes nutzt, was sie sich nicht eingestehen kann oder will. Oder, das habe ich von einer Esoterik-Seite, weil dort mal ein geheimes Unrecht geschah und das Opfer über Träume versucht, darauf hinzuweisen. Letzteres ist natürlich Eso-Unsinn. Ich schaue nach, welche Burgen es so im näheren Umkreis von uns gibt. Es gibt so fünf in der Umgebung und sieben, wenn man ein bisschen weiter guckt. Ich schreibe sie mir auf.

Als die Motorradschlampe eine Woche später in mein Wohnzimmer tritt, bleibt ihr Blick an einem gerahmten Bild hängen. Sie hat mal ein Foto von einem neuen Tattoo von sich auf Instagram gepostet und ich habe es auf Postergröße gezogen und ausgedruckt.
„Du hast Dir das aufgehängt?“, fragt sie, ein bisschen belustigt.
„Naja, wenn Du das ins Internet stellst, dann muss Du damit leben, dass Leute sich das ausdrucken …“
„Schon gut“, sagt sie schmunzelnd, „aber das hast Du Dir doch nur aufgehängt, weil man darauf meinen halben Arsch sieht.“
– „Nein, nein … ich hätte’s mir auch aufgehängt, wenn es Dein Unterarm wäre.“
„Ok“, sagt sie und sieht aus als sei ihr gerade etwas klar geworden.
Ich hole das Tablet und wir setzen uns.
„Es gibt sieben Burgen, die man von hier aus gut erreichen kann. Wir könnten die alle abfahren und schauen, ob eine davon die aus Deinem Traum ist. Ein paar gleich um die Ecke, ein paar ein bisschen weiter weg und bei zweien müsste man sehr früh losfahren und wäre dann erst abends wieder zurück.“
„Aha, nice.“
– „Also zum Beispiel immer am Wochenende, könnten wir ja so hinfahren und so …“
Ich schaue sie an. Zu meiner großen Überraschung sagt sie:
„In Ordnung.“

Unsere erste Fahrt führt uns zu der halb erhaltenen, halb wiederaufgebauten Ruine einer Burg im mecklenburgisch-niedersächsischen Grenzland. Hier haben sich die Wenden verschanzt, während die Sachsen sie insgesamt 30 Tage belagerten, letztere letztlich erfolgreich, um dann anschließend von hier aus die Elbe zu überqueren. Wir gehen in den Innenhof und wieder raus, einmal herum. Die Motorradschlampe sagt, dass es ist nicht die Burg aus ihrem Traum ist.
„Willst Du sie Dir nicht nochmal genau anschauen?“
– „Nee, wozu? Ich sehe doch, dass es nicht die richtige ist.“
„Naja, ok.“
Ich schaue auf Wikipedia, ob es hier trotzdem noch etwas Interessantes gibt, was man sich auf-den-zweiten-Blick anschauen kann. Es ist einfach ein schöner Tag, so mit der Sonne und so und sie schaut mich lange von der Seite an und sagt:
„Ach, was soll’s. Zieh Dich aus.“
– „Was?“
„Zieh Dich aus.“
– „Hier?“
„Ja, ist doch keiner außer uns da“, sie knöpft ihre Hose auf, „oder willst Du nicht?“
Ihre Augen glitzern, das Blau darin leuchtet und es leuchtet über ihre Augen hinaus, wie ein Bergsee, in den ich springe, in den wir beide springen und uns unter Wasser suchen und finden und finden und halten und halten und halten und
halten.


Wir laufen zu den Motorrädern zurück, ich habe ein bisschen Hunger und merke erst bei diesem Merken-dass-ich-hungrig-bin, was da eben gerade passiert ist, alles klar, merke ich, alles klar, so this happend. Ich fahre sie bis zu ihrem Zuhause zurück.
„Nächstes Wochenende wieder?“, frage ich.
– „Klar. Ich will diesen Ort finden.“

BURGEN. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal mit diesem Thema beschäftigen würde. Andererseits fahre ich jetzt ja auch Motorrad und das wäre mir auch nie eingefallen, wenn ich sie nicht getroffen hätte. Naja, „Motorrad“, das was man eben fahren darf mit einem Autoführerschein. Die Motorradschlampe nennt es immer „Toilette“ („Könntest Du Deine Toilette mal etwas zur Seite schieben, ich will neben Dir parken.“) Es gibt übrigens s o v i e l e Burgen in Deutschland, je länger ich suche, desto mehr finde ich. Große und kleine, solche, die von den sie bewohnenden Adelsfamilien renoviert wurden und solche, deren Familien schon vor Jahrhunderten ausgestorben sind. Die meisten haben mindestens einen dunklen Fleck in ihrer Geschichte. Bei manchen steht in der Beschreibung im Internet, dass es darin spukt. Ist natürlich Quatsch, sollte es wirklich Gespenster geben, wäre es doch sehr viel sinnvoller wenn die einem eine konkrete Info über sich geben würden, statt dumm herumzuspuken. Bei manchen Burgen muss man Eintritt zahlen, bei anderen nicht. Die Burgen im Süden sind im Süden meistens größer als die im Norden. Wenn eine Burg erobert wird, dann schleifen die neuen Herren als erstes den Hinrichtungsplatz, sodass man heutzutage meistens nicht weiß wo die waren. Wenn eine Burg verfällt, verfallen die Türme als erstes und die Brunnen als letztes. Wenn in Westdeutschland von einer Burg eine Mauer und ein paar Steine übrig geblieben sind, dann kriegt die Mauer ein eigenes Museum und jeder einzelne Stein eine eigene Website. In Ostdeutschland gibt es Burgen, die fast komplett erhalten sind und aussehen, als seien sie direkt aus Herr der Ringe und trotzdem interessiert sich da niemand für. Im Osten waren wir an vielen solcher Burgen, wo es gerade mal eine Infotafel gab. Irgendwie ungerecht.

In der nächsten Burg hat Niklot, der Abodritenfürst, gegen Heinrich den Löwen gekämpft. ‚War das letztes Mal eigentlich ein Versehen?‘, überlege ich auf der Fahrt dorthin. Aus der Situation, dem Affekt heraus? Wir haben uns seitdem nicht gesehen. Aber sie wartete pünktlich zur geplanten zweiten Tour vor ihrer Haustür darauf, dass ich sie abhole. Vielleicht sollte ich so etwas sagen wie ‚War doch ganz schön, letztes Mal. Könnten wir doch heute wieder machen?‘ Klingt das zu unsicher? Oder zu pushy? Letztes Mal ging die Initiative von ihr aus, vielleicht sollte sie dieses Mal von mir ausgehen. Oder lieber nicht ansprechen? Einmal und nie wieder? Es gibt ja so Dinge, Momente, die im Leben nur ein einziges Mal passieren und man wird nur unglücklich, wenn man hofft, dass es wiederkommt. Hmmh, vermutlich schon. Ja, das ist besser so. Bei sowas dankbar sein, dass es überhaupt passiert ist.
Wir kommen an; man kann bis ganz an die Burg fahren. Ich fahre vor und höre, wie sie hinter mir stehen bleibt. Noch auf dem Motorrad sitzend, ziehe ich den Helm aus, sie kommt auf mich zu, beugt meinen Kopf nach vorne und beißt mir in den Nacken. So richtig fest, dann geht sie vor mir in den die Burg umschließenden Wald, ich gehe ihr hinter. Sie bleibt schließlich an einer Buche mit tief hängenden Ästen stehen, lehnt sich an und schaut mich zwischen Buchenblättern an, in ihren Motorradklamotten ist sie ein schwarzes Leuchten im matten Grün. Ich merke, wie sich mein Verstand schon wieder verabschiedet. Sie knöpft ihr Stachelarmband auf und lässt es auf den Boden fallen, den Kapuzenpulli ebenso. Ihr Be-Ha ist mit einem Fraktal bestickt und das sieht so kunstvoll, so crazy und ungewöhnlich aus.
„Na, eingefroren? Mach ihn doch auf.“

„Wollen wir uns noch die Burg anschauen?“, frage ich als wir wieder bei den Motorrädern sind.
– „Nee. Die isses eh nicht.“

Es spielt sich ein gewisses Muster ein: Wir fahren zu einer Burg, sie checkt ob es die Burg aus ihrem Traum ist, nein sie ist es nicht, wir vögeln, anschließend essen wir an einer Imbissbude Bratwurst und Pommes, dann begleite ich sie nach Hause und fahre schließlich selbst nach Hause. Bei der vierten Burg bestellt sie testweise Süßkartoffelpommes, findet die blöd und wir tauschen unsere Teller. Ich stochere ein bisschen in den Süßkartoffelpommes herum und sage dann:
„Du nennst mich doch immer bei meinem Vornamen.“
– „Ja? Und?“
Ich schlage einen für die Motorradszene typischen männlichen Kosenamen vor, bei dem sie mich, in Anbetracht unserer jetzigen Situation, nennen könnte.
Sie lacht laut auf. „Ich weiß immer nicht, wo Du diese Ausdrücke her hast. Wir reden so nicht und wenn dann nur ironisch. So reden Leute, die Motorräder nur aus Serien kennen.“
– „Aber als ich Dich gefragt habe, wie Du heißt, hast Du doch auch …“
„Ja, aber gerade weil das auch so ein Cliché-Wort ist! Ich weiß nicht, warum ich es in dem Moment gesagt habe. Und ich wusste nicht, dass es so sehr bei Dir hängen bleibt. Wir schauen im Club manchmal so Mainstream-Motorradfilme. Oder Krimis mit Motorrädern. Und lachen uns dann kaputt über die Scheiße, die die Leute darin labern. Man merkt richtig, dass Fernseh-Fuzzis niemanden kennen, der Motorrad fährt.“
– „Wenn Du’s blöd findest, kann ich Dich auch bei Deinem Vornamen nennen.“
„Nein, lass nur. Irgendwie find es … keine Ahnung … witzig, wenn Du mich so nennst. Es passt irgendwie ganz gut zu Dir.“
– „Ok. Sag ansonsten Bescheid, also ich …“
„Passt schon. Wir müssten im Übrigen los; heute ist wieder T-e-a-m-s-i-t-z-u-n-g im Club. Ich terrorisiere alle dahin, dass sie pünktlich sein sollen, da kann ich nicht selbst zu spät kommen.“

Am Ende einer der Straßen, die vom Bahnhof wegführen, am Waldrand, steht so eine Art Schuppen, eine Garage. Das ist ihr Club. Man hört manchmal, dass jemand ein ganz anderer Mensch ist, wenn er ins Büro kommt. Die Motorradschlampe ist allerdings immer noch der gleiche Mensch, immer noch ganz sie, als sie in den Club kommt; sie ist es aber so wie wenn man aus einem Supermarkt herauskommt und es heftig regnet und man jetzt durch den Regen zum Auto laufen muss: bisschen genervt, bisschen wütend, sehr entschlossen. In dem Club riecht es wie in der (schon lange, lange nicht mehr existierenden) Videothek in meiner Heimatstadt: Nach Zigarettenrauch und verschüttetem Bier.
Es ist voll wie in einer Kneipe zu Stoßzeiten. Sie geht vor, man macht ihr Platz, schüchtern trotte ich hinter ihr her. Die dünne kurzhaarige Mischka, die ich schon kenne, schließt sich ihr an und sagt:
„Super, dass Du da bist, Boss. Es ist gerade ein bisschen viel auf einmal. Ich habe Dir die Sachen für heute mal ausgedruckt.“
Die Dünne gibt ihr ein Blatt und sie gehen zu einem Tisch, an der ein kahler Rocker mit langem Bart schon auf sie wartet. Die Motorradschlampe setzt sich, als einzige. Der Typ mit Glatze legt ihr wortlos einen dicken Umschlag hin.
„Superpünktlich wie immer“, sagt sie, „so können wir arbeiten.“
„Wir haben doch vereinbart, dass Du das mir gibst und ich gebe es dann Jette“, sagt die Mischka zu dem Kahlen, in dem fordernden Tonfall, den man benutzt, wenn man möchte, dass noch jemand Drittes es hört.
„Nein. Nichts haben wir vereinbart“, pampt er zurück, „Du hast gesagt, dass wir das so machen und mir war es egal, was Du sagst.“
Die Motorradschlampe, das ‚viel auf einmal‘-Blatt betrachtend, sagt: „Klärt ihr das untereinander bitte, ja?“ Der Glatzköpfige geht wortlos weg. Die Motorradschlampe unterstreicht etwas auf der Liste.
„Danke hierfür, Mischka, das ist sehr hilfreich und das machen wir ab jetzt immer so. Sei ein Schatz und bring mir einen Kaffee und können dann anfangen.“
Mischka dreht sich, zum ersten Mal, zu mir um und starrt mich demonstrativ an.
„Ah, richtig“, sagt die Motorradschlampe und wendet sich an mich: „Du musst jetzt gehen.“
Das hätte sie auch netter sagen können. Egal. Ich gehe raus. Vor dem Club steht der Glatzköpfige und raucht.

„Bist Du Zahnarzt oder gerade geschieden?“, fragt er mich.
– „Äh … was?“
„Naja, wenn Typen wie Du hier auftauchen, sind sie entweder Zahnarzt oder gerade frisch geschieden.“
– „Typen wie ich?“
„Ja, Typen wie Du. Die so aussehen und reden wie Du.“
– „… Ich bin mitgekommen“ und zeige in Richtung der Motorradschlampe.
„Ach, Du bist das also? Es heißt, dass Jette … jemanden hat.“
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
„Woher kennst Du sie eigentlich?“, fragt er mich.

WOHER ICH SIE KENNE. Das war so ungefähr vor einem Jahr. Ich liege auf der Couch in meiner Wohnung und jemand rüttelt mich wach und fragt:
„Hast Du ein Konterbier?“
Nein, anders, ich muss diese Geschichte früher anfangen, so zwölf Stunden vorher:
Das war an einem Samstag, „Biker Mice from Mars“ war neu auf Netflix, alle drei Staffeln, ich wollte das Wochenende nutzen um das durchzubingen. Ich bin in der Nacht auf Sonntag schon so dreiviertel damit durch. Beschließe, kurz Pause zu machen um Bier und Süßzeug zu holen. Der Kiosk am Bahnhof hat schon zu, daher laufe ich zum Inder. „Biker Mice“ ist eine Hammerserie, schade, dass so was heute nicht mehr produziert wird, denke ich, mache die Tür zum Inder auf und pralle heftig mit einer gerade herausrennenden dünnen Frau in Lederklamotten zusammen, von der ich zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass es Mischka ist. Sie stößt mich wütend zur Seite und rennt weiter. Ich betrete den Laden. Drinnen stehen drei junge Trucker. Ein vierter, älterer Trucker liegt blutend auf dem Boden und bewegt sich nicht. An der Theke steht der Inder-Sohn und ihnen allen gegenüber steht die Motorradschlampe, mit einem Schlagring an der Hand. Das war das erste Mal, das ich sie gesehen habe. Sie ist so betrunken, dass sie dauernd hin-und-her wankt, aber immer noch nüchtern genug, dass sie begreift, dass hier etwas nicht ganz optimal läuft. Niemand sagt was, es wird noch nicht mal geatmet, sie starren einfach alle auf den auf-dem-Boden-blutenden-Trucker. Hätte der Inder-Vater heute Dienst, wüsste er, was zu tun ist, aber heute ist leider der Inder-Sohn an der Kasse und der ist genauso stumm und bleich wie die jungen Trucker. Auf einmal jault der am Boden auf, nicht laut, aber dass er überhaupt jault, ist anscheinend ein gutes Zeichen. Der Inder und die jungen Trucker atmen sichtlich erleichtert auf. Alle schauen zur Motorradschlampe. Die zieht sich den Schlagring ab, legt ihn auf die Theke an der Kasse, zeigt zu mir und sagt:
„Du. Ich schlaf heute bei Dir. Komm.“ That’s all. Sie kommt auf mich zu, an den Truckern vorbei, hakt sich bei mir unter, wir gehen raus, sie geht zunächst sehr schnell, dann übernimmt der Alkohol wieder, ich muss sie ein bisschen stützen und die letzten Meter fast tragen. Ich führe sie in mein Schlafzimmer, zeige auf das Bett und sage, super-sinnvoll:
„Hier kannst Du schlafen.“
„Prima“, sagt sie, lässt sich auf das Bett fallen, mit Klamotten und Stiefeln, schläft sofort ein und schnarcht. Ich gehe ins Wohnzimmer, mache die Serie wieder an und zittere ein bisschen vor Aufregung.

Ich liege auf der Couch in meiner Wohnung, der nächste Tag, es muss so Mittag sein, jemand rüttelt mich wach und fragt:
„Hast Du ein Konterbier?“
– „Hmmh?“
„Wenn man verkatert ist, muss man ein Konterbier trinken, dann geht es einem gleich wieder besser.“
– „Warte kurz, ich mache Frühstück“, sage ich und gehe zur Küche.
„Du müsstest vielleicht Dein Bett neu beziehen“, ruft sie mir hinterher.

Ich baue Frühstückssachen auf, darunter auch Bier, wir setzen uns.
„Konterbier ist überhaupt das Beste, glaub mir“, sagt sie, ext das Bier, stellt es ab, stößt auf, etwas Kotze läuft ihr aus der Nase, sie hält sich die Nase zu und kotzt dann aus dem Mund, einmal quer über den Tisch.
Wir schauen auf die vollgebrochenen Brötchen.
„Also, das frühstücke ich nicht mehr“, sagt sie sachlich.
Wir fahren zum McDonalds. Sie nimmt das alles mit einer gewissen Selbstverständlichkeit hin. Als wir ankommen sagt sie:
„Ach ja, ich muss Mischka anrufen, nicht dass die Schnappatmung bekommt.“ Nimmt ihr Handy raus, ruft jemanden an, beschreibt, wo sie ist und dass sie dort in so einer halben Stunde abgeholt werden möchte. Während wir draußen sitzen und Kaffee-und-Burger zu uns nehmen, frage ich sie:
„Wer bist Du überhaupt?“
– „Ach, ich bin nur eine … wie nennt Ihr das? Da gibt es so ein Wort … ach, stimmt …“, sagt sie und greift dann zu einem furchtbar vulgären Ausdruck. Ich bin überrascht, dass jemand das als Selbstbezeichnung benutzt.
Mischka kommt, stellt sich zu unserem Tisch, schaut mich nicht an und sagt zur ihr:
„Du … ….“
– „Ja, bitte?“, fragt die Motorradschlampe und klingt nach Neugier und Unschuld.
„Du …. hast mir ganz schön Angst eingejagt, als ich gestern mit den Jungs zurückgekommen bin und Du nicht mehr da warst. Egal, hier bist und bist noch ganz. Also alles gut. Aber“, Mischka nimmt den Schlagring aus der Jackentasche und hält ihn hoch, „bitte, bitte, bitte, lass so was nicht rumliegen. Das wird uns noch mal richtig Ärger einbringen. Soll ich Dir einen Kaffee holen?“
„Ich hatte schon Kaffee“, sagt die Motorradschlampe und sagt, aufstehend, zu mir: „War ein ganz schöner Morgen mit Dir. Meld Dich doch mal wieder.“

ALS ICH DAS DEM KAHLEN ERZÄHLE, LASSE ICH ETWA EIN VIERTEL WEG.
„Krass. Ich erinnere mich an den Abend“, sagt der Kahle, „Mischka stürmte hier rein und sagte, nein, brüllte ‚A l l e M i t k o m m e n S o f o r t‘. Als wir Jette in dem Späti nicht antrafen, bestand sie darauf, dass wir jetzt so lange nach ihr suchen, bis wir sie finden. Jette war auch nicht bei sich zu Hause. Es gibt so eine Truckerbar, das „Schlagloch“. Wir haben befürchtet, dass die Trucker aus dem Späti sie dorthin mitgezerrt haben. Da geht niemand von uns rein, nie. Mischka ist eine dumme, sich wahnsinnig wichtig machende Göre, aber sie, das muss man ihr echt lassen, war bereit reinzugehen und Jette da rauszuholen. Ich sagte ihr, dass wenn sie das tut, die Trucker sie einmal innen nach außen drehen. Und dass Jette auf sich aufpassen kann und, selbst wenn sie da drin sein sollte, was wir ja nicht sicher wussten, sie schon irgendwie zurechtkommen würde. Mischka sah das ein. Ich hatte ja auch recht: Zu diesem Zeitpunkt war sie anscheinend schon bei Dir.“
– „Und keiner von Euch hat gefragt, wo sie war, als sie dann irgendwann wieder hier auftauchte?“
„Nein. Wir waren natürlich neugierig. Aber man fragt halt Leute nicht nach sowas.“
– „Hmmh.“
Er zündet sich noch eine Zigarette an. Mischka kommt raus.
„Jette möchte wissen, warum …“, sie unterbricht sich als sie mich sieht, „Du bist immer noch hier?! Jetzt hör mal zu: Ich weiß nicht, was da Seltsames zwischen Dir und Jette läuft, aber Du bist keiner von uns. Und wirst das auch nie sein. Ich will Dich hier nicht mehr sehen. Leute wie Du haben hier nichts zu suchen.“
– „Es sei denn“, sagt der Kahle, „Du hast schlimme Zahnschmerzen und willst sofort behandelt werden, was? Da warst Du bei dem anderen Zahnarzt, der hier war, ja auf einmal ganz locker mit den Regeln.“
„Das war aber was anderes!!! Der hat ja nicht mit Jette … Der wollte ja einfach nur hier abhängen … was mischt Du Dich denn da eigentlich ein??“
Ich fühle mich der Transparenz halber verpflichtet, Folgendes zu bedenken zu geben: „Ich bin kein Zahnarzt.“
„Du verpisst Dich jetzt“, sagt Mischka und geht wieder rein, die Tür hinter sich zuknallend. Dann fällt ihr anscheinend ein, dass sie ja was von dem Kahlen wollte und macht die Tür nochmal auf, aber nur einen Spalt breit und redet über die fast geschlossene Tür hinweg mit ihm.

Als ich die Motorradschlampe ein paar Tage später abhole, um die nächste Burg zu besichtigen, sagt sie: „Lass uns mal vorher einkaufen fahren. Wenn Du mit mir Motorrad fährst, kannst Du nicht diese Jacke tragen, sowas tragen nur Deppen.“ Wir fahren zu einem Laden, der von außen ein bisschen nach Tattoostudio aussieht. Sie ruft jemanden an:
„Rosa? Ich stehe hier vor Deinem Laden. Machst Du uns auf, ja? Bis gleich.“
Und dann zu mir: „Rosa wird uns gleich aufmachen. Der wohnt auch hier, so hinter dem Laden.“
– „Und …“, nicht dass das wichtig wäre, ich frage einfach so, es ist wirklich nicht wichtig, ich hätte auch nach dem Wetter fragen können, „… woher kennst Du ihn?“
„Von dem Motorradgottesdienst.“
– „Woher?“
„Dem Motorradgottesdienst. Einmal im Jahr gibt es in der großen Hansestadt einen Motorradgottesdienst. Wir fahren da nie hin. Aber dieses Jahr, wegen Corona und so, hat der Pastor die Hamburger angerufen und gesagt, dass es eines der wenigen Events ist, die überhaupt stattfinden dürfen, weil es draußen ist und so und dass sie außerdem Grillzeug kaufen werden und wenn wir wollen, können wir nachher auf deren Kirchwiese grillen und die Hamburger haben dann mich angerufen und gefragt, ob wir nicht auch kommen wollen und ich sagte ‚in Ordnung, wir kommen auch‘.“
– „Hmmh.“
„Das war zum ersten Mal seit meiner Konfirmation, das ich bei so einer Kirchensache war und ich fand’s ganz nett, so Gutes tun und so. Ich habe mir sogar gedacht ‚Wenn es jemanden gibt, dem ich helfen kann, dann soll sich die Person bei mir melden‘. Das war etwa vor einem Monat.“
Rosa, der größte und breiteste Mann, den ich bislang gesehen habe, macht uns, von innen, wortlos auf. Drinnen sind so Bikerklamotten, alles mögliche, auch Gürtel und Schuhe, aber auch Krams und Tom Waits-LPs. Die Motorradschlampe browse-t ein bisschen durch die Jacken.
„Hier, hör mal. Was Du da trägst, das ist eine Jacke für Wichser, die auf Macker machen wollen. Das dagegen“, sie nimmt eine Jacke vom Bügel und hält sie fröhlich hoch, „ist eine Kutte.“
Ich ziehe sie an, schaue mich im Spiegel an und sehe kaum einen Unterschied zu meiner jetzigen Jacke.
„Gefällt sie Dir an mir?“, frage ich.
– „Joa. Joa, schon.“
„In Ordnung, dann nehme ich sie.“
Rosa steht an der Kasse: „Nur bar. Willst Du eine Tüte für Deine alte Jacke?“ Ja, gerne.

Sie beobachtet mich, wie ich zum Motorrad zurückgehe und aufsteige.
„Was hast Du neulich vorgeschlagen?“, fragt sie, „ach, ja: ‚Lederstecher‘. Ist gebongt, ich werde Dich jetzt so nennen. Mein Lederstecher.“
– „Ja. JA. AufjedenFall: Dein, Dein, Dein Lederstecher. Ich bin gerne Dein Lederstecher.“
„Knutschen?“, fragt sie, „jetzt Knutschen?“
– „Wir können zu mir fahren. Oder zu Dir, das ist näher. Aber dann heute nicht mehr zu Burg?“
„Achso, wir machen ja unser Burgen-Ding. Nein, im Ernst, das mit den Burgen ist mir wichtig, ich träume mittlerweile jede Nacht davon und mir kommt es vor als würde ich auf ein Foto schauen. Aber wenn ich versuche, mir Details zu merken, etwas woran man diese Burg identifizieren kann, verschwimmt es irgendwie, wird es nicht greifbar.“
– „Fällt Dir denn irgendetwas an dieser Burg auf? Hast Du sie vielleicht schon mal als Kind gesehen?“
„Nein. Aber beim letzten Mal träumte ich nicht nur von dieser Burg, da war noch was anderes. Ich sah wie ich auf einem Stuhl stehe. Gerade habe ich irgendwas gemacht. Ich werde an den Haaren von dem Stuhl runtergezogen und irgendwo rausgeschleift. Also, nicht ich-ich. Ich sehe es so als hätte ich es erlebt, aber in dem Traum weiß ich irgendwie, dass das nicht ich bin, sondern jemand anderes und ich es nur durch die Augen dieser Person sehe.“
– „Habe mir jetzt ein paar Bücher über Traumdeutung gekauft – ich werde es nachschlagen und Dir sagen, was es bedeutet“, sage ich und fühle mich hilfreich und unterstützend.


Ich fahre spazieren. Das mache ich in letzter Zeit häufiger, so abends unter der Woche. Hauptsächlich, um bei unseren Touren einigermaßen mit meiner Motorradschlampe mithalten zu können, zumindest ein bisschen, sodass sie nicht dauernd auf mich warten muss. Aber mittlerweile, und so auch heute, weil ich es gerne mache, es ist ganz schön. Man lernt ein bisschen die Umgebung kennen und sieht lauter Orte, Wiesen, Felder, Straßen, die man sonst nicht sehen würde. Man würde ja nicht mit dem Auto einfach so spazieren fahren und ich kann nicht spazieren gehen, ohne mich zu fühlen als sei ich 90. Mit dem Motorrad geht es aber. Ein anderes Motorrad hupt mich auf einmal von hinten an, überholt mich, schert ein und bremst dann ab, sodass ich auch bremsen muss, um es nicht zu crashen. Das andere Motorrad fährt wieder los, ich auch und bremst dann wieder fast ganz ab. Dieses Mal komme ich so nah, dass ich sehe, dass auf der Kutte in Heavy Metall-Lettern „MISCHKA“ steht. Ah, Du bist das. Sie streckt mir den Mittelfinger entgegen. Ist bestimmt anstrengend, beim Fahren den Arm ganz nach hinten zu strecken, aber anscheinend ist es ihr das wert. Was genau habe ich Dir getan, Mischka, dass Du so wütend auf mich bist? Egal, manchmal mögen Leute einen einfach grundlos nicht.

Bei der nächsten Burg bekommen wir im Eingangsbereich mit, wie eine nach Museums-Chefin aussehende Frau einer anscheinend neuen Mitarbeiterin etwas an der Kasse erklärt.
„Und wenn hier Kids mit Skateboards auftauchen: Nein. Immer nein. Auch wenn die nett sind, auch wenn sie Dir anbieten mitzumachen, auch wenn sie sagen, dass sie nur ganz langsam skaten und leise Musik hören werden: Nein. In der Burg wird nicht geskatet.“

In der Burg ist es wahnsinnig kalt, auch für Burg-Verhältnisse, dabei ist es eigentlich warm draußen. Ich habe bei der Vorbereitung unserer Fahrten herausgefunden, dass Prinzessinnenzimmer innerhalb der Burg häufig so ausgerichtet sind, dass sie am meisten Sonne abbekommen. Wir gehen da hin, vielleicht ist es da ein bisschen wärmer.

Es ist ein bisschen wärmer, ja, aber immer noch wahnsinnig kalt. Liebe im Stehen? Liebe im Stehen. Ich greife ihr um die Kniekehlen und hebe sie hoch, ganz schön, das sollten wir öfter so machen.
„Geh zu dem Kronleuchter“, sagt meine Motorradschlampe. Ok.
Sie hält sich daran fest – Hammer – und ich habe den Eindruck, dass sie es auch ganz angenehm findet, doch auf einmal guckt sie überrascht und hört auf mitzumachen.
„Heb mich mal hoch“, sagt sie. Ich mache es. Sie richtet sich auf und greift nach etwas, das in dem Kronleuchter liegt. Es ist ein Stück Pergament, beschrieben in schwarzer Tinte oder vielleicht mit Kohle.
„Lass mich mal runter“, sagt sie und schaut sich dann das Pergament aufmerksam an. Sie legt es auf unseren Klamottenhaufen.
„Alles klar, kann weiter.“

Nachdem wir durch sind, würde ich uns gerne was zu Essen holen, vor der Burg war ein kleiner Imbiss. Beim Rausgehen gibt sie der Chefin an der Kasse das Pergament.
„Hey. Das hier schon mal gesehen?“
Die Museums-Chefin guckt etwas reserviert auf meine Motorradschlampe, greift dann aber trotzdem zum ihr hingehaltenen Pergament und macht große Augen. „Das ist ja unglaublich! Die wurde also doch unschuldig geköpft. Wo haben Sie das bloß her?“ Mein Magen knurrt und die labern hier über irgendwelchen Unsinn. „Wir wollten doch noch Pommes essen“, sage ich, ungeduldig.
„Ja, stimmt. Ok, lass uns gehen.“
„Aber … nein, warten Sie, woher haben Sie das?“, sagt die Museums-Chefin, aber wir gehen schon, vielleicht gibt es auch Currywurst, das wäre doch ganz schön.

„So“, sage ich als wir essen, „dann nächsten Samstag die nächste Tour?“
Meine Motorradschlampe dreht ihre Cola-Flasche hin-und-her.
„Unsere Touren sind ziemlich wichtig für Dich, was?“
– „Ja. Also ich meine: Nur bis wir Deine Burg gefunden haben. Aber ja, ich finde es ganz nice.“
„Wie viele sind denn noch auf der Liste?“
„Nicht mehr viele. So drei, vier.“
„ok.“
– „Träumst Du denn noch von der Burg?“
„In der Nacht auf heute habe ich davon geträumt, ja“, sagt sie und ergänzt, „in Ordnung, ja, nächste Woche weiter.“

Zwischendurch frage ich mich, ob ihr beständiges Träumen von dieser Burg nicht daher kommt, dass die Motorradschlampe selbst ein bisschen wie eine Burg ist und ihr Unterbewusstsein versucht sie darauf hinzuweisen, also dass sie offener sein und sich weniger ‚einmauern soll‘. Die nächste Tour läuft irgendwie schleppend. Die Burg ist ziemlich weit weg, es wäre eigentlich eine Sache für mit Übernachten gewesen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie das nicht wollen würde, also sind wir am selben Tag hin und zurück. Als ich sie nachts bis zu ihrer Haustür bringe, sagt sie: „Das war ein bisschen zu weit.“

Wir parken an der insgesamt zwölften Burg und steigen ab und in dem Moment weiß ich, dass es die letzte sein wird. Wir gehen hoch, zum Eingang und ich weiß gar nicht, woher ich das weiß oder was genau anders ist, aber ich spüre ‚Das war’s jetzt, es ist vorbei.
Sag es.
Komm schon, sag es, denke ich, ansonsten sag ich es. Denn ich merke, dass Du es sagen willst. Wir kommen beim Eingang an, sie sagt „ok, das ist die Burg aus meinen Träumen“ und wir gehen noch nicht mal rein, einfach zurück zu den Motorrädern, schweigend.

Wir machen uns an die Rückfahrt. Ich versuche, mich erwachsen zu verhalten. Menschen verschwinden. Das ist bereits vorher passiert und das wird auch wieder passieren. Ich versuche mich nicht darauf zu konzentrieren, dass es jetzt vorbei ist, sondern dass es überhaupt passiert ist. Aber dieses Argument gilt irgendwie nur so halb, weil wenn es nicht passiert wäre, würde es mir jetzt auch nicht fehlen. Man muss doch irgendetwas dagegen nehmen können, Tabletten, die einem so Erfahrungen ersparen. Endorphinblocker oder so.
Werden wir jetzt die ganze Rückfahrt über schweigen? Soll ich was sagen? Hätte ich vorhin was sagen sollen? Auf einmal meldet sie sich über Funk:
„Weißt Du, Du bist ein guter Beobachter, Du nimmst viel wahr und so. Aber Du missverstehst vieles auch krass. Und wenn Dir etwas nicht in den Kram passt, dann blockst Du das einfach, dann siehst Du das gar nicht.“
– „Aber. Dann sag mir doch, wie ich es richtig verstehe. Also … das ist jetzt auch ein unfairer Vorwurf.“
Ich höre, wie sie ansetzt, noch etwas zu sagen, aber es dann doch nicht tut. Wir schweigen-fahren wieder. Auf dem Weg zurück fährt sie vor mir und macht ein paar Tricks, balanciert auf dem Hinterrad, dreht Schleifen und so. Die kann wirklich gut fahren.

Wir kommen zu der Kreuzung, wo es zu ihr geht.
„So, ich muss jetzt hier abbiegen“, sagt sie, „war schön mit Dir. Mach’s gut.“

Die Regenmacherin

Ich bin dabei, meine Morgen-Routine abzuschließen, deutlich, d e u t l i c h früher als ich mich sonst an einem Samstag dazu bringen könnte, denn für das Magazin für das ich von Zeit zu Zeit schreibe, fahre ich heute nach Bad Aussee, einem kleinen Ort in der Steiermark, um über eine Art „Regen-Festival“ zu schreiben, dass dort einmal alle zehn Jahre stattfindet. Woistschonwiederdasaftershave?! ich muss mir endlich angewöhnen, alle Alltagsdinge immer an die selbe Stelle zu stellen, dann müsste ich sie auch nicht ständig suchen. Dauernd verbummele ich meine Sachen. Wie oft musste ich früher meinen Eltern beichten, dass ich schon wieder meinen Turnbeutel verloren habe, grrr, das ist mir auch heute noch peinlich. Mir fällt auf, wie spät es schon ist. Wie immer wenn ich angespannt bin, greife ich reflexhaft zu meinem Nippelpiercing. Es ist höchste Zeit loszufahren, wird wohl nichts mit noch frühstücken, wirklich super. Und, ja, das war dumm, mit dem Auto fahren zu wollen. Ich hätte stattdessen a. mit dem Zug fahren sollen und b. schon gestern. Hätte, hätte, hätte. Was brauche ich heute? Ich nehme nur Unterwäsche und den Reiseführer und ein bisschen Reisezeug mit und gehe zum Auto. Den Reiseführer habe ich antiquarisch gekauft. Die oder der Vorbesitzer benutzte um Unterschreiben fröhlich bunte Textmarker, nice.

Der Auftrag kam kurzfristig und ich hatte nicht so viel Zeit, mich vorzubereiten. Ich mailte mir in der letzten Woche mit der Veranstalterin des Regenfestivals hin-und-her. Ihre Mails hatten so einen kraftvoll-optimistischen no bullshit-Ton: zack! Es findet dann-und-dann statt, zack! hier die Adresse, zack! „Sie werden nicht als Teilnehmer da sein, sondern als Beobachter; dafür müssen sie auch nicht die Teilnahmegebühr bezahlen. Die Regenmacherin wird im Laufe des Abend eintreffen.“

Je weiter ich in den Süden fahre, desto kahler sind die Bäume. In dem norddeutschen Speckgürtel in dem ich wohne, regnet es die ganze Zeit (naja, fast), dort kommen die Bäume besser zurecht. Ab Kassel südwärts sieht es immer schlimmer aus, ganze Waldhänge trocknen ihrem Tod entgegen. Und das nur der Teil, den ich von der Autobahn aus sehe, beunruhigend.

Das Navi lässt mich so wahnsinnig lange Zeiten ohne Abbiegen fahren, „Folgen Sie dem Straßenverlauf für die nächsten drei Stunden und halten Sie sich dann rechts“. Erst nachdem ich über die Grenze gefahren bin, wird derdiedas Navi ein bisschen wacher. Ah, stimmt, hier ist Hallstatt um die Ecke. Im Reiseführer ist ein ganzes Kapitel nur über diese Stadt, die Autoren überschlagen sich mit Lob. „Wenn Sie nur eine einzige Stadt besichtigen, dann besichtigen Sie diese hier!“ befiehlt der Reiseführer eher als dass er es vorschlägt.

Ein bisschen gerädert komme ich schließlich bei der Adresse an, die mir die Veranstalterin genannt hat. Es ist eine Wiese an einem See, rechts daneben fröhlicht ein kleiner Spielplatz vor sich hin. Es ist schon spät, aber die Tage sind gerade lang und es dauert noch ein paar Stunden bis zum Sonnenuntergang. Ich frage mich bis zur Veranstalterin vor. Sie spricht so wie ihre Mails klangen: „Schön, dass Sie da sind. Früher kam mehr Presse zu unseren Festen.“
„Ich würde gerne ein Interview mit der Regenmacherin führen.“
„Die Regenmacherin ist noch nicht da. Nehmen Sie sich etwas vom Buffet“, sagt sie und ergänzt, dass sie jetzt prüfen müsste, ob genug Feuerlöscher da sind, man habe einige Feuer gemacht. Davor bittet sie einen Typen in einem Nazca-Tshirt mehr Sprudelkästen aus einem der Sprinter zu holen. Ohne einen Ansprechpartner zu haben, drifte ich ein mal-hierhin und mal-dorthin. Manche Leute dancen ein bisschen, ein paar machen Yoga, die meisten stehen in kleinen Gruppen zusammen und unterhalten sich. Ein Mann trägt einen großen, flachen Korb. Darin sind getrocknete Ringelblumen-Blüten, die er mit der ganzen Hand rausnimmt und in die Menge wirft. Eine Frau sitzt unter einer etwas traurig aussehenden Rosskastanie und faltet Origami-Tiere. Ich komme näher. Sie hat schöne Hände und reicht mir einen Papierphönix. „Darf ich den behalten?“, frage ich (vorsichtshalber, aus ähnlichen Situationen gelernt habend). Sie nickt. Ich gehe weiter und bleibe schließlich an einem Zelt stehen, das genau in der Mitte des Geländes steht. Darin hängt eine Art Umhang sowie Kopfschmuck und Knöchelbändchen. Alles aus demselben Material, so kleine dünne Hölzer, in mehreren Schichten übereinander und mit etwas kleinem, hartem gefüllt, vielleicht getrockneten Erbsen. Wenn man mit der Hand durchfährt, macht es ein Geräusch als würde es regnen. Am Boden liegt eine mit Leder bespannte Trommel. À propos Musik: Ich habe so halb erwartet, dass auf dem Festival Live-Musik sein wird, von Leuten, die in Percussion-Kreisen sitzen oder so, aber es läuft Elektro-Ambient-Musik aus Lautsprechern. Als ich aus dem Zelt rauskomme, steht dort ein Typ und raucht. Der Typ trägt Ledersandalen und eine Art kurzen Umhang, ansonsten nichts. Er ist sehr hager und hat so Beine wie sie Sportradfahrer oder Fahrradkuriere haben.
„Habe gerade das Kostüm gesehen“, sage ich, „es macht ein regenähnliches Geräusch, die Regenmacherin wird es ja vermutlich nachher tragen.“
„Nein, wird sie nicht. Aber Du hast recht: Magie bedeutet, etwas zu machen, das dem, was Du möchtest ähnlich ist“, sagt der hagere Halbnackte. Ich lasse ihn alleine weiterrauchen und bewege mich in Richtung der Yoga-Gruppe.

Eine Yoga-Frau kommt auf mich zu. Ihre Arme sind mit floralen Bildern tätowiert und sie hat die strengen Gesichtszüge einer Juristin oder einer Abteilungschefin. Sie bewegt sich auf die abgefederte, schwerelose Art, die Yoga-Menschen manchmal zu eigen ist und spricht mit dermaßen starkem Dialekt, dass ich nicht ein Wort verstehe. Sie hält zwei Gläser Fruchtsaft (Smoothie? Bio-Energydrink?) und bietet mir eines davon mit einer freundlichen Geste an. Es ist das bitterste, das ich jemals getrunken habe. Vielleicht auch das gesündeste, wer weiß, aber so bitter, dass ich jetzt gerne meinen Kopf in einen Sack Zucker stecken würde. Die Yoga-Frau lacht und sagt etwas, das ich abermals nicht verstehe.

Neben einem großen Lagerfeuer gibt es noch mehrere kleinere. Ich sehe den hageren Typen an einem davon stehen und stelle mich neben ihn.
„Jetzt ist es so heiß und trocken“, sage ich, “ aber ich sehe schon, wie es, sobald ich diesen Ort verlassen habe, anfangen wird wie aus Kübeln zu schütten und meinen ganzen Heimweg über weiterregnen wird; mir zum Trotz.“
„Du nimmst Dich ziemlich ernst, was?“, sagt der Hagere und lacht. Anschließend erklärt er mir, was es mit dem Festival auf sich hat: Wie sie es finanzieren, warum sie es an diesem Ort machen, wie er davon erfahren hat und so weiter. Er weiß ziemlich viel hierüber, gut dass ich ihn getroffen habe. Das sollte ich mir überhaupt für Schreibaufträge bei Events merken: Jemanden finden, der sich auskennt und mich dann an diese Person dranhängen.

Ein paar Festivalbesucher tragen Holz zu dem Hauptfeuer. Dass sie trotz der Dürre überhaupt so ein großes Lagerfeuer machen dürfen, liegt daran (wie ich nun weiß), dass sie in unmittelbare Nähe des Sees sind. So ziemlich alle anderen haben sich der Yoga-Gruppe angeschlossen. Sie machen alle die gleiche Übung. Sie sieht ziemlich eckig aus. Warum machen sie nicht etwas das mehr nach Regen aussieht? Es gibt im Yoga doch auch so (mir fehlt es an Yoga-Vokabular, um das präzise auszudrücken) weiche, fließende, „von-oben-nach-unten vollführte“ Übungen? Was die hier machen ist eine ziemlich harte, angespannte Übung, die viele Aufsteh-Bewegungen beinhaltet. Sieht trotzdem ganz cool aus, wenn die das alle gleichzeitig tun. Sie sind wahnsinnig gut synchronisiert, ein bisschen so wie ein einziger Körper, wie eine Welle.

Ich suche und finde den Hageren, der schon wieder raucht.
„Es gibt so eine Geschichte über einen Regenmacher“, sage ich, „in verschiedenen Versionen. Bei meiner Recherche hierfür, bin ich immer wieder darauf gestoßen.“
„Ach, ‚denn Regen wird nur verliehen‚ und so? Ein Märchen, mehr nicht.“
„Ist das nicht so euer Gründungsmythos oder so?“
„… ‚Gründungsmythos‘ ist so ein großes, hohles Wort. Das Problem ist, dass diese Ereignisse, falls sie überhaupt so passiert sind – und das ist ein großes ‚Falls‘ -, in einer, sehr hypothetischen, Urheimat stattfanden – wovon weder schriftliche noch sonstige Zeugnisse von geblieben sind. Vielleicht ist es so passiert – vielleicht nicht.“
„Hmmh.“
„Du hast eine andere Antwort erwartet, was, kleiner Star-Reporter?“
„Ehrlich gesagt: Ja. Auch so auf das ganze Event hier bezogen.“
„Was denn?“
„Naja, dass hier mehr Action ist. Dass Ihr hier so krasse Rituale aufführt und so.“
Er schweigt eine Weile und fragt dann: „Warum bist Du hier?“
„Um über Euer Festival zu schreiben.“
„Nein. Warum bist Du hier?“
„Hmmh“, ich bin mir nicht sicher, was er meint.
„Ja?“
„Naja, damit Leute überhaupt online Reportagen lesen, muss man immer über Schlüsselthemen schreiben. Noch besser ist es, wenn es zwei, drei Key-Topics in einer Sache zusammenfallen, wie zum Beispiel ‚veganes Binge-Watching‘. Bei Euch, hier heute Abend, geht es um Klimawandel und um so ganzheitliche Gesundheit und Spiritualität. Das sind beides Themen, die gerade …“
„Nein, nein. Warum. Bist. Du. Hier?“
Ich verstehe die Frage akustisch-semantisch, aber ich raffe nicht worauf er hinauswill.
„Äh … was?“
Ein anderer, nicht ganz so nackter, Mann kommt zu uns und sagt zu dem Hageren:
„Hier bist Du! Ich hab Dich gesucht. So langsam könnte man mal zum Bahnhof fahren.“
„Um die Regenmacherin abzuholen?“, frage ich.
„Ja“, sagt der Hagere, „komm mit, wenn du möchtest.“

Der hiesige Bahnhof hat nur vier Gleise. Der Veranstalterin, der Hagere (hat er sich für die Fahrt zum Bahnhof etwas angezogen? Nein. Ich beneide ihn ein bisschen um sein unverkrampftes Verhältnis zum eigenen Körper) und ich stehen am Bahnsteig. Niemand ist sonst zu sehen. Auf einem großen Schild sieht man einen cartoonhaft gezeichneten Mann, der bedenklich nah vor einem heranfahrenden Zug über die Gleise rennt. Daneben steht „Das geht sich locker aus …“. Der Hagere bemerkt, dass ich versuche das Schild zu enträtseln und sagt: „Das heißt so viel wie ‚Das klappt bestimmt‘. Es ist ironisch gemeint.“
„Verstehe“, sage ich und ergänze „auf Hochdeutsch würde ’sich ausgehen‘ was anderes bedeuten, nämlich …“
Er unterbricht mich: „Warum haben Deutsche immer so ein Bedürfnis, einem zu erklären, was Dinge auf Hochdeutsch heißen?“
Ah – da ist sie, die alpine Grobheit Deutschen gegenüber. Der Reiseführer hat mich vorgewarnt.
„Naja, aber ich kenne ja auch keine Österreicher, also außer Euch, jetzt“, wende ich ein.

Die Regenmacherin steigt aus dem Zug. Auf dem Weg zum Auto gehen wir an einer älteren Dame in Hippie-Klamotten vorbei, die an einem der anderen Bahnsteige wartet. Die Veranstalterin grüßt sie, die Dame grüßt zurück.
„Wollen Sie auch zum Festival?“, frage ich sie neugierig.
Alle schauen mich irritiert an. Habe ich was falsches gesagt?
„Nein“, sagt die Veranstalterin, „ich habe über’s Wochenende ein Zimmer bei ihr gemietet.“
Ok. Warum war das jetzt ein Problem, dass ich das gefragt hab?

Im Auto, auf dem Weg zurück zum See sitze ich neben der Regenmacherin. Sie trägt die Bergsteigerschuhe, die die Wander-Touris hier in der Gegend immer tragen, eine kurze, reißfest wirkende Hose und einen überhaupt nicht dazu passenden Pulli aus dünner Wolle. Halb möchte ich jetzt ein Interview führen, weil es vielleicht die letzte Gelegenheit ist, mit ihr ungestört reden zu können und halb traue ich mich nicht, weil die Stimmung gerade so komisch ist.
„Ich bin …“, sage ich schließlich.
„Ich weiß, wer Du bist“, sagt die Regenmacherin sachlich, nicht unfreundlich.

Als wir an dem Festivalgelände ankommen, zieht sich die Regenmacherin aus und gibt ihre Kleidung der Veranstalterin, die sie sorgfältig zusammenlegt. Jemand gibt der Veranstalterin eine Schale mit blauem Bodypaint. Die Festival-People stellen sich locker in zwei Reihen auf, die von hier zu dem Zelt reichen. Die Veranstalterin läuft dazwischen entlang, sie trägt die Schale vor sich und bietet den Leuten das Bodypaint an. Die Regenmacherin läuft mit ein bisschen Abstand hinterher. Sie geht so wie Tänzer auf der Bühne gehen, wenn sie gerade schauspielern, dass sie gehen: expressiv, bedacht die Ferse zuerst aufsetzend und über die Zehen abrollend; dass fällt umso mehr auf, als die Veranstalterin vor ihr ganz normal läuft. Der Hagere legt seine Hand auf meinen Rücken und gibt mir einen kleinen Schups und wir gehen nebeneinander hinter ihr her. Die Leute tauchen ihre Fingerspitzen in die Schale und berühren die Regenmacherin. Sie nehmen immer nur ganz wenig Bodypaint, aber es sind genug Menschen da, dass sie bald fast vollständig mit Farbe bedeckt ist.

Als die Regenmacherin fast am Zelt ist, tritt eine zierliche Greisin zwischen sie und die Veranstalterin. Die Veranstalterin bleibt stehen und hält ihr die Schale hin. Die Greisin taucht zwei Finger ein und streicht sich die Farbe über die Lippen. Dann geht sie zur Regenmacherin und küsst sie auf den Mund. Die Greisin ist so klein, dass sie sich auf die Zehen stellen muss und dass obwohl sich die Regenmacherin schon zu ihr runterbeugt.

Das ganze läuft läuft schnell und geübt ab. Die Veranstalterin bleibt am Zelt stehen. Alle wissen, wo sie sein und was sie tun sollen, nur ich bin ein bisschen überfordert. Ich greife mir an mein Nippel-Piercing. Es ist nicht da. „Verdammt nochmal …“, sage ich (unabsichtlich laut) und werde fragend angeschaut.
„Ich habe mein Nippelpiercing verloren.“
„Nimm meins“, sagt die Regenmacherin.
Aus irgendeinem Grund sind ihre Augenbrauen in einem dunkleren blau gefärbt als der Rest ihres Gesichts; vielleicht hat sie sich das selbst nachgezogen als ich hinter ihr herlief. Es gibt ihr, zusammen mit dem im halbdunkel geradezu leuchtenden Weiß ihrer Augen, einen durchdringenden Blick. Sie macht ihr Piercing auf, nimmt es raus und gibt es mir. Danach greift sie in die Schale und streicht sich über die, ein bisschen blutende, Stelle. Das Piercing ist handgeschmiedet und sieht aus wie ein Tropfen. Es verliert und fängt das Licht des Feuers.

Sternsteppe

Die kalte Nacht schmiegt sich an den spärlich bewachsenen Boden, der von der Tagessonne noch ganz warm ist. Das Lager schläft, jemand hält Wache und vertreibt sich die Zeit, indem er beim Schein eines kleines Dochtes schnitzt. Winde flüstern sich in ihrer kaum verständlichen Sprache Geheimnisse zu. Langsam, ganz langsam, dreht sich die Milchstraße von der Steppe weg und macht anderen Bildern Platz.

 

Endlich Klarheit

Es ist Nacht. Ich wache davon auf, dass ich höre, dass jemand in meiner Wohnung ist. Ich wohne alleine und niemand außer mir hat einen Schlüssel. Ich höre, wie sich jemand im Flur bewegt. Kopfmäßig weiß ich, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach ein Einbrecher ist, der Fernseher, Geld etc. sucht und dann seiner Wege geht. Trotzdem habe ich Angst, Bauchangst, dass es etwas schlimmeres sein könnte, ein Mörder oder etwas furchtbareres als ein Mörder. Das Wort „Gräuel“ kommt mir in den Sinn. Ich höre, wie sich der Eindringling auf mein Schlafzimmer zubewegt. Er öffnet die Tür. Ich stelle mich schlafend. Bitte geh‘ weg. Bitte, bitte, bitte geh‘ weg. Er bewegt sich nicht laut, aber er gibt sich auch keine Mühe, besonders leise zu sein. Er beobachtet mich anscheinend.
Als mir auffällt, wie kühl, sachlich neugierig er ist, fange ich unwillkürlich an vor Angst zu zittern.

Die Erleichterung

Viele Archäologen, und vor ihnen Konquistadoren, haben schon nach dem Armreif von Palenque gesucht, einem Maya-Schatz, der dem Träger, so die Legende, übermenschliche Kraft verleiht. Nach mühsamer Suche findet das Team, dem ich als Übersetzer angehöre, im Dschungel von Guatemala endlich den Tempel, in dem sich der Armreif befindet soll. Im Innersten des Heiligtums steht eine Stele, beschrieben im örtlichen Dialekt des Mayan. Ich lese und übersetze sie. Darauf steht in der quadratischen Schrift, die die alten Maya benutzten, dass es keinen Armreif gibt und die Priester zu Zeiten der Erbauung des Tempels auch nicht wissen, woher diese Legende stammt. Nachdem ich das letzte Wort vorgelesen habe, fangen wir alle zu lachen an und sind irgendwie erleichtert.

Dahinter Kälte

eisfestung

Eine Forschungsstation, weit im Norden. Es schneit ununterbrochen. Drinnen ist es sauber und aufgeräumt, aber es ist keiner da. Die Luft ist so kalt, dass man beim Ausatmen Wolken bildet. Wo sind alle? Ist es überhaupt eine Forschungsstation? Es wirkt von außen wie eine Festung. In den Fluren hängen Schilder mit Diagrammen und langen Erläuterungen, geschrieben in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Ich habe den Eindruck, dass mich aus den verschneiten, kalten Bergen heraus etwas beobachtet.

Zurückhalten

Ich habe oft versucht, mit dem Rauchen aufzuhören und bin immer wieder rückfällig geworden. Diesmal habe ich allen erzählt, dass ich nicht mehr rauche und habe nun den sozialen Druck auch wirklich nicht zu rauchen, wenn ich in Gegenwart von Freunden, Familie oder Kollegen bin. Das heißt, ich rauche nur noch heimlich. Mittlerweile habe ich auch meinen Nachbarn stolz erzählt, dass ich nicht mehr rauche, sodass es nicht mehr reicht, hinters Haus zu gehen, weil die mich dann dort sehen könnten und dann wäre ich jemand, der es nicht geschafft hat, mit dem Rauchen aufzuhören – und das will ich nicht. Abends gehe ich auf lange Spaziergänge am Rande der Stadt, da kenne ich niemanden. Meine Runden werden immer größer, weil ich während eines Spaziergangs ja so viel rauchen muss wie vorher den ganzen Tag über. Meine neue Strecke führt mich an einem Umspannwerk vorbei. Hier stehen ganz viele Strommasten, im Herbst sah es aus, als würden sie ganz oben miteinander reden, jetzt im Winter so, als würden sie gleich umfallen. Ich stelle mich darunter und rauche, es ist spät nachts. Auf einmal kommt aus dem Dunkel von unterhalb eines der Masten jemand. Er trägt eine große Säge, war gerade dabei, sich im Gehen Arbeitshandschuhe auszuziehen und erschreckt sich, als er mich sieht. Nervös schaut er sich um. „Ich rauche nicht mehr“, sage ich, die Kippe in der Hand. moonlight_scene